Dieter Degowski bedroht Silke Bischoff mit einer Waffe. © picture alliance / Hartmut Reeh/dpa Foto: Hartmut Reeh

Das Gladbecker Geiseldrama: Die Republik schaut zu

Stand: 16.08.2023 05:00 Uhr

Zwei Männer überfallen im Sommer 1988 in Gladbeck eine Bank. Sie fliehen mit Geiseln quer durch die Republik, auch durch Niedersachsen. Sie inszenieren sich vor laufenden TV-Kameras. Die Polizei reagiert hilflos. Drei Menschen sterben.

von Lasko Werner

16. August 1988, kurz vor 8 Uhr morgens: Der 31-jährige Hans-Jürgen Rösner und der 32 Jahre alte Dieter Degowski überfallen eine Bank im nordrhein-westfälischen Gladbeck. Als sie von der Polizei umstellt werden, nehmen sie zwei Angestellte als Geiseln. In der Nacht dürfen sie mit den Geiseln und einem Fluchtwagen abziehen. In einer Wohnung in Gladbeck holen die Gangster Rösners Freundin Marion Löblich ab. Zunächst irren sie ziellos durchs Ruhrgebiet. Schließlich entscheiden sie sich, nach Bremen zu fahren. Marion Löblich stammt von dort. 

Bremens Polizei verpasst die erste Möglichkeit zum Zugriff

Die Geiselnehmer Dieter Degowski (l.) und Hans-Jürgen Rösner in dem in Bremen gekaperten Linienbus. Vorne sitzend die später getötet Silke Bischoff (hinter der Haltestange), ganz rechts Ines Voitle. © dpa /picture-alliance Foto: Ingo Wagner
Schwere Panne: Die Polizei kann es nicht verhindern, dass die Geiselnehmer einen Linienbus mit 32 Menschen entführen.

17. August: Im Bremer Stadtteil Vegesack unternehmen Rösner und Löblich einen gemütlichen Einkaufsbummel durch die Fußgängerzone. Degowski bleibt solange bei den beiden Geiseln im Auto. Die Gangster fühlen sich anscheinend sicher. Aber die Polizei hat sie mittlerweile aufgespürt. Die Beamten können beobachten, dass Degowski zwischenzeitlich sogar das Auto verlässt, um zur Toilette zu gehen. Nie wieder ist die Gelegenheit so günstig, die Geiselnahme unblutig zu beenden. Aber niemand gibt den Befehl zum Zugriff. Die Polizei scheint regelrecht paralysiert. Es gelingt den Gangstern noch einmal, sich mit den Geiseln davonzumachen. Die Verfolger lassen sich jedoch nur kurz abschütteln. Als Rösner und Degowski die Polizei bemerken, kommt es kurz nach 19 Uhr zu einer Kurzschlussreaktion: Im Bremer Stadtteil Huckelriede kapern sie einen Bus der Linie 53 und bringen weitere 32 Menschen in ihre Gewalt.

"Pressekonferenz" der Geiselnehmer vor dem Bus

Hans-Jürgen Rösner beantwortet mit einer Pistole in der Hand Fragen von Journalisten. © dpa - Fotoreport Foto: Thomas Wattenberg
Ungehindert von der Polizei beantwortet Hans-Jürgen Rösner die Fragen von Journalisten.

Das absurde Schauspiel wird jetzt zu einem öffentlichen Ereignis. Unbehelligt gelangen Schaulustige und Reporter an den Bus. Von Absperrung keine Spur. Die beiden Gangster genießen offensichtlich die öffentliche Aufmerksamkeit. Vor dem Bus gibt Rösner eine "Pressekonferenz". Sein Kumpel Degowski sei "brandgefährlich", prahlt er. Erzählt von seinem Leben und seiner Kindheit in Erziehungsheimen. 13 Jahre hat er insgesamt schon im Gefängnis gesessen. Bevor er wieder in den Knast müsse, wolle er alle Geiseln und dann sich selbst erschießen. Sein Leben sei ihm egal. Medienwirksam steckt er sich den Lauf seiner Pistole in den Mund. Warum denn all die unschuldigen Menschen sterben sollen, wird er gefragt. Rösner zuckt mit der Schulter und murmelt nur: "Kann ich nichts für."

Polizei reagiert nicht auf Verhandlungsangebote der Geiselnehmer

Immer wieder versuchen die Geiselnehmer, mit der Polizei zu verhandeln. Aber alle Versuche schlagen fehl: Niemand in der oberen Führungsetage scheint sich zuständig zu fühlen. Überhaupt agiert der gesamte Bremer Polizeiapparat kopflos und ohne ein erkennbares Konzept. Mit einer derartigen Situation hat niemand gerechnet, entsprechende Notfallpläne existieren nicht. Rösner wird derweil zusehends aggressiver. Immer wieder hält er der achtjährigen Tatiana de Giorgi, die zusammen mit ihrem Bruder Emanuele im Bus sitzt, seine Waffe an den Kopf. Droht, sie zu erschießen, wenn nicht bald jemand mit ihm Kontakt aufnimmt. Schießt um sich, als er hinter einem Fenster Scharfschützen vermutet. Als es dunkel ist, setzt sich der Bus schließlich in Bewegung.

Absurdes Medienspektakel

Journalisten drängen sich vor einem Bus © NDR
Nichts ist abgesperrt; Journalisten drängen sich hemmungslos vor dem Bus mit den Geiseln.

Verfolgt von der Polizei, steuert der Bus mit den Gangstern und ihren Geiseln auf die Autobahn. Im Schlepptau befindet sich ein ganzer Pulk von Reportern. Ein Polizeibeamter kommt während der Verfolgung bei einem Verkehrsunfall ums Leben. An der Raststätte Grundbergsee an der A 1 bei Sottrum in Niedersachsen machen die Entführer kurz nach 23 Uhr Halt. Rösners Freundin will zur Toilette.

Wieder gehen Reporter zu den Geiselnehmern und verhandeln. Sie erreichen, dass die beiden erschöpften Geiseln aus der Gladbecker Bank freikommen. Derweil müssen andere Geiseln für Interviews herhalten. Vor laufender Kamera fragt ein Reporter Silke Bischoff: "Wie geht es Ihnen mit der Pistole am Hals?" Die 18-jährige Geisel, von Degowski mit einer Waffe bedroht, versucht zu lächeln. Es gehe ihr "eigentlich ziemlich gut", erklärt sie. Und dass sie sich nicht vorstellen kann, dass er wirklich abdrücken würde.

Tödliche Eskalation an der Raststätte Grundbergsee in Niedersachsen

Dann eskaliert das Drama. Polizeibeamte haben Löblich auf der Toilette überwältigt und festgenommen - offenbar eigenmächtig; wer das Kommando dazu gab, ließ sich nie klären. Rösner rastet aus. Wenn seine Freundin nicht in fünf Minuten freigelassen werde, müsse eine Geisel sterben. Die Polizei gibt nach. Doch der Schlüssel für die Handschellen bricht ab. Die Freilassung verzögert sich. Da schießt Degowski dem 15-jährigen Emanuele de Giorgi vor den Augen seiner kleinen Schwester in den Kopf. Reporter tragen den Schwerverletzten aus dem Bus. Einer von ihnen hält den Kopf des Jungen noch in die Kamera. Ein weiterer verhängnisvoller Fehler der Einsatzleitung wird offenbar: Es befindet sich kein Rettungswagen vor Ort. De Giorgi verblutet.

Showdown in Bad Honnef - eine Bremerin stirbt

Schaulustige auf einer Autobahnbrücke blicken auf die Autos und Polizei auf der Autobahn. © dpa - Bildarchiv Foto: Franz-Peter Tschauner
Von Absperrung keine Spur: Nach dem Ende der Geiselnahme versammeln sich Hunderte Schaulustige auf einer Autobahnbrücke.

Wieder fährt der Bus davon, dieses Mal Richtung Niederlande. Dort tauschen die Gangster den Bus gegen einen von der Polizei gestellten, präparierten BMW ein und lassen die meisten Geiseln frei. Zwei Bremer Mädchen aus dem Bus, Silke Bischoff und ihre Freundin Ines Voitle, bleiben jedoch in ihrer Hand. Die Geiselnehmer fahren zurück nach Deutschland. In Wuppertal besorgen sie sich am Morgen des 18. August aus einer Apotheke Aufputschmittel, fahren weiter nach Köln. Dort wird das Fahrzeug der Entführer in der Innenstadt von Schaulustigen und Reportern umlagert. Die Täter geben ausführliche Interviews und fahren später auf die A 3. Ihr Ziel ist Frankfurt am Main. Bei Bad Honnef endet am Mittag schließlich ein Befreiungsversuch der Polizei in einer Tragödie. Silke Bischoff stirbt durch eine Kugel aus Rösners Waffe. Ines Voitle springt aus dem Wagen und bleibt weitgehend unverletzt.

Gladbecker Geiseldrama zieht politische Konsequenzen nach sich

Unmittelbar nach Ende des Geiseldramas wird bundesweit der Ruf nach Konsequenzen laut. Angesichts des desaströsen Verhaltens der Bremer Polizei fordert die Opposition aus CDU, FDP und Grünen im Bremer Senat den sofortigen Rücktritt den Innensenators Bernd Meyer. Meyer, selbst ehemaliger Polizist, übernimmt die volle politische Verantwortung und kündigt umgehende Verbesserungen an. Doch einen Rücktritt lehnt er ab.

Der Bremer Senat beauftragt den pensionierten Generalstaatsanwalt Günther Wendisch, das Vorgehen der Polizei zu untersuchen. In seinem Bericht vom Oktober desselben Jahres kommt Wendisch zu einem ebenso eindeutigen wie vernichtenden Urteil: Der chaotische Polizeieinsatz sei durch schwere Führungsfehler verursacht worden. Insbesondere wird der oberen Polizeiführung angelastet, die Kaperung des Linienbusses nicht verhindert zu haben. Auch das Fehlen eines Rettungswagens an der Raststätte Grundbergsee wird als schweres Versäumnis gewertet. Angesichts dieser Vorwürfe kann Bremens Bürgermeister Klaus Wedemeier seinen Innensenator nicht länger halten. Einen Monat später tritt Meyer ihm Rahmen einer Kabinettsumbildung zurück. Er bleibt damit bundesweit der einzige Politiker, der entsprechende Konsequenzen aus dem Geiseldrama von Gladbeck zu ziehen hat.

Lebenslange Haftstrafe für Rösner und Degowski

Hans Jürgen-Rösner und Dieter Degowski werden am 22. März 1991 zu lebenslanger Haft verurteilt. Bei einem Haftprüfungstermin am 14. August 2013 entscheidet das Gericht, dass Dieter Degowski in den folgenden Jahren durch Haftlockerungen auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden soll. 2017 darf Degowski das Gefängnis als Freigänger erstmals stundenweise verlassen. Im Februar 2018 wird er nach fast 30 Jahren Haft freigelassen und hat eine neue Identität erhalten.

Sein Komplize Rösner verweigert sich dagegen jeder Therapie. Seine Entlassung wäre 2016 theoretisch möglich gewesen. Allerdings ist im Urteil gegen ihn Sicherungsverwahrung angeordnet worden.

Weitere Informationen
Der Wagen mit den Geiselnehmern Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner wird am 18.08.1988 in Köln von Journalisten umringt. © picture alliance / dpa Foto: Hartmut Reeh

Gladbeck '88: Eine Republik hält den Atem an

Was als Banküberfall beginnt, gerät zum Medienspektakel. Ein Storytelling zu einem der dramatischsten Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte. extern

Dieses Thema im Programm:

ZAPP | 13.08.2008 | 23:00 Uhr

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