Gesundheitskiosk: Streit um Beratung in unterversorgtem Viertel

Stand: 06.12.2022 06:00 Uhr

Erst im Sommer hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angekündigt, dass in ganz Deutschland bald 1.000 Gesundheitskioske stehen sollen. Doch bereits dem Modellprojekt in Hamburg-Billstedt drohen jetzt große Einschränkungen. Grund ist offenbar ein Streit zwischen Krankenkassen und Gesundheitsminister über die Finanzierung.

von Jan Körner, Lea Struckmeier

Najib Hashimi steigt von der Waage. Zwei Kilo hat er schon wieder abgenommen und auch seine Zuckerwerte sind viel besser geworden. Dann misst Pflegefachkraft Pegah Rezaie noch seinen Blutdruck. Das alles passiert auf Farsi. Denn nur so versteht Najib Hashimi, der vor dem Krieg in Afghanistan geflohen ist, alle medizinischen Begriffe und kann auch seine Probleme am besten schildern. Dank der Beratung von Pegah Rezaie habe er jetzt viel mehr Lebensqualität, sagt er. Seit einigen Monaten kommt er nun schon in den Gesundheitskiosk in Billstedt. Nirgendwo sonst habe er die nötige gesundheitliche Unterstützung bekommen.

Pegah Rezaie, Pflegefachkraft © NDR
Kann auch auf Farsi beraten: Pflegefachkraft Pegah Rezaie.

Doch ab Januar darf sich Najib Hashimi nicht mehr im Gesundheitskiosk beraten lassen. Seine Krankenkasse will den Gesundheitskiosk nicht mehr weiterfinanzieren.

Niedrigschwellig kompetent beraten

Der Gesundheitskiosk sollte vor allem eins sein: Niedrigschwellig. Pflegefachkräfte beraten auf acht Sprachen, sie erklären Diagnosen und Therapien, geben Tipps für einen gesünderen Lebensstil, helfen beim Abnehmen. Ein Beratungstermin kann dabei bis zu 45 Minuten dauern. Das Konzept ist speziell auf die medizinischen Bedürfnisse der Menschen in Billstedt ausgelegt. Billstedt ist einer der ärmsten Stadtteile Hamburgs. Laut einer AOK-Studie sterben die Menschen hier durchschnittlich zehn Jahre früher und es gibt nur wenige Ärzte im Stadtteil. Hier sollte der Gesundheitskiosk ansetzen, damit Menschen nicht erst medizinisch versorgt werden können, wenn ihre Krankheiten schon sehr weit fortgeschritten sind.

Gesundheitskiosk in Hamburg Billstedt © NDR
AUDIO: Der Gesundheitskiosk in Billstedt – ein Vorbild, das ins Straucheln gerät (4 Min)

Erfolgversprechendes Konzept

Das kam bei den Menschen im Stadtteil gut an, und eine Auswertung der Universität Hamburg kam zu dem Schluss, dass der Gesundheitskiosk in Billstedt seine Ziele überwiegend erreicht habe. Auch Bundesgesundheitsminister Lauterbach zeigte sich überzeugt. Im Sommer 2022 besucht er den Gesundheitskiosk und kündigte noch am gleichen Tag an, dass es nach Billstedter Vorbild bald 1.000 Gesundheitskioske in ganz Deutschland geben solle. Finanziert werden sollen die zu knapp 75 Prozent durch die gesetzlichen Krankenkassen, das wären mehrere Hundert Millionen Euro.

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Informationsbroschüren stehen im Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt. © picture alliance/dpa Foto: Daniel Reinhardt

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Streit um die Finanzierung

Nur kurze Zeit, nachdem der Minister seine Pläne präsentiert hat, kündigten Barmer, DAK und Techniker Krankenkasse dann plötzlich an, dass sie den Gesundheitskiosk in Billstedt nicht weiter finanzieren wollen. Ein Signal an den Gesundheitsminister, dass 1.000 solcher Kioske zu errichten nicht auf Zustimmung stößt?

Die Konsequenz für Billstedt: Versicherte dieser drei Krankenkassen können die Angebote des Gesundheitskiosks ab Januar nicht mehr nutzen. Ein Argument der Krankenkassen: Der Gesundheitskiosk würde sich mit bereits vorhandenen Angeboten doppeln.

"Keine Doppelstrukturen"

Gerd Fass, Chirurg © NDR
Sieht keine Doppelstrukturen, sondern ergänzende Strukturen: Gerd Fass, Chirurg.

Dem widerspricht der Chirurg Gerd Fass. Er leitet eine Orthopädie-Praxis in Hamburg-Mümmelmannsberg. "Also zu sagen, es gibt Doppelstrukturen, das kann ich nicht nachvollziehen. Weil wir keine Doppelstruktur haben, sondern eine ergänzende Struktur medizinisch. Wir sind hier in der Situation, dass wir auf 1.000 Einwohner ungefähr einen niedergelassenen Arzt haben." Bis zu 70 Patienten habe Gerd Fass am Tag. Eine umfassende Aufklärung sei da nicht möglich. Ohne den Gesundheitskiosk würden viele nach kurzer Zeit wieder in seine Praxis kommen, weil sie mehr Beratung benötigen.  

Doch laut Barmer, DAK und Techniker Krankenkasse gäbe es auch keine rechtliche Grundlage für sie, um den Gesundheitskiosk weiter zu finanzieren. Aufgaben wie die "kultursensible Beratung in Muttersprache" seien Aufgaben der Integration, nicht der gesetzlichen Krankenkassen. Zudem sei der Gesundheitskiosk auch zu teuer. Die Beratungsleistungen stünden "nach wie vor in keinem Verhältnis zu der hohen finanziellen Aufwendung der Krankenkassen."

Verbesserte Versorgung

Matthias Mohrmann, Vorstandsmitglied AOK Rheinland/Hamburg © NDR
Glaubt an den positiven Effekt vom Gesundheitskiosk: Matthias Mohrmann, Vorstandsmitglied AOK Rheinland/Hamburg.

Bei der AOK Rheinland/Hamburg sieht man das offenbar anders. Dort will man den Gesundheitskiosk weiter finanzieren und findet, das Projekt sei auch nicht so teuer. "Wenn man sich mal anguckt, wie viel wir ausgeben für unser Gesundheitssystem insgesamt, dann sind das verschwindende Kosten", so Vorstandsmitglied Matthias Mohrmann. Doch wirtschaftliche Faktoren seien nicht der Grund warum die AOK den Gesundheitskiosk weiter finanziert. "Was ist Wirtschaftlichkeit, wenn man die Versorgung verbessert? Wenn Menschen älter werden, wenn sie später krank werden, dann ist das ja ein Gewinn für die Versicherten und das ist unsere eigentliche Aufgabe", so Mohrmann.

Er kann das Verhalten der drei Krankenkassen nicht nachvollziehen. Wenn die Ärzte des Viertels, die Studie der Uni Hamburg und das Gesundheitsministerium den Gesundheitskiosk sinnvoll finden. Wieso dann der Rückzug der drei Krankenkassen? Mohrmann vermutet der eigentliche Grund sei politisch motiviert. Der Rückzug könnte Protest gegen Lauterbachs Pläne deutschlandweit 1.000 Kioske zu eröffnen sein, so Mohrmann. "Man kann nicht dieses Versorgungsprojekt in Geiselhaft nehmen für das, was auf der politischen Ebene passiert." Doch auch Mohrmann findet, dass zukünftig Gesundheitskioske zur Hälfte von der öffentlichen Hand mitfinanziert werden sollten.

Das Bundesgesundheitsministerium will sich zum Verhalten der Krankenkassen nicht äußern. Man arbeite zurzeit an einer gesetzlichen Regelung für die 1.000 Gesundheitskioske. Wann es die geben wird und ob dann alle Versicherten auch wieder den Gesundheitskiosk in Billstedt besuchen können, ist unklar.

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Informationsbroschüren stehen im Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt. © picture alliance/dpa Foto: Daniel Reinhardt

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 06.12.2022 | 21:15 Uhr

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