Ukrainische Toptalente: Wenn der Krieg den Olympia-Traum gefährdet
Nach dem Überfall Russlands auf ihre Heimat Ukraine vor einem Jahr ist Mascha mit ihrer Familie nach Hamburg gekommen. Die Siebenjährige ist ein Toptalent in der rhythmischen Sportgymnastik - und in Deutschland unterfordert. Ist der Traum von der großen Karriere geplatzt?
Wenn Mascha möchte, macht sie Bewegungen, die viele ihrer Teamkolleginnen beim Hamburger Verein HT16 staunen lassen. Selbst ihre Trainerin Oksana Yatsyshyna. Dabei leitet die gebürtige Kiewerin schon seit vielen Jahren Kinder- und Jugendgruppen in der rhythmischen Sportgymnastik. Im Einklang zur Musik biegt das ukrainische Top-Talent seine Gliedmaßen und den zarten Körper, dass es kaum möglich scheint.
Lächelnd berichtet Maschas Mutter Yuliia Pomarzhanska dem NDR bei Borschtsch, Wareniki (Teigtaschen) und Lachs-Weißkohl-Schichtsalat im Mietshaus der Familie vom Erstaunen der erfahrenen Übungsleiterin: "Ja, sie hat sich über Mascha gewundert. Sie sagte oft: 'Oh, du kannst dies! Und auch das!'"
Mascha, die so gerufen wird und eigentlich Mariia heißt, ist eines von zahlreichen ukrainischen Talenten, das seit einigen Monaten in der Fremde versucht, am Traum von einer Sportkarriere festzuhalten. Doch es ist schwer, die Umstände sind schwierig, die Herausforderungen groß, nicht zuletzt in kultureller Hinsicht. Dazu kommen die schrecklichen Bilder und Nachrichten aus der Heimat. Auch damit müssen sich Mascha und die anderen ukrainischen Mädchen in der 20 Athletinnen umfassenden Trainingsgruppe bei HT 16 auseinandersetzen.
Beim Onkel ist zu wenig Platz
Schon kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hatte sich die siebenköpfige Familie von der Hauptstadt Kiew auf den Weg nach Deutschland gemacht. Väter mit mindestens drei Kindern unterliegen nicht dem Ausreiseverbot. Zunächst kam die Familie bei einem Onkel in Wedel unter. Aber das funktionierte nicht - zu wenig Raum für zu viele Personen. "Es sind ältere Leute. Das war schwierig für ihn und seine Frau, damit zurechtzukommen. Er hat uns gebeten zu gehen", erzählt Maschas Mutter.
"Es war nicht unsere Wahl zu kommen." Yuliia Pomarzhanska
Seitdem gibt es keinen Kontakt mehr. "Ich kann ihn auch verstehen - fünf Kinder, zwei Katzen. Aber es war nicht unsere Wahl zu kommen", sagt Yuliia Pomarzhanska, die in der Ukraine als Englisch-Lehrerin gearbeitet hat und dies auch von Deutschland aus online weiterführt.
Über eine weitere Station in der Nähe von Buchholz ging es im April in den Norden Hamburgs. Während ihr Mann Wolodimir - in der Heimat Trainer an einer renommierten Fußball-Akademie - in der Hansestadt auch wegen seiner fehlenden Deutsch-Kenntnisse noch keine neue Aufgabe gefunden hat, konnte Mascha an ihre große Leidenschaft rhythmische Sportgymnastik etwas leichter anknüpfen.
Olympia-Teilnahme der große Wunsch
Seit Ende August gehört sie der Gruppe bei HT 16 an. Ihren sportlichen Traum hat sie sich bewahrt: "Ich möchte später Trainerin werden. Und wenn ich an Olympischen Spielen teilnehmen kann, dann würde ich das gerne machen." Sie drückt es höflich aus, zurückhaltend - vermutlich weiß sie, wie schwierig Letzteres für sie durch den Umzug nach Deutschland geworden ist.
Hier fristet die rhythmische Sportgymnastik unter den Sportarten nur ein Schattendasein, in der Ukraine ist das ganz anders. Das zeigen schon die Siegerlisten der internationalen Wettkämpfe: Die Ukrainerin Hanna Bessonowa wurde zwischen 2003 und 2007 dreimal Weltmeisterin, ihre Landsfrau Kateryna Serebrjanska 1996 Olympiasiegerin. Ihren Leistungshöhepunkt erreichen Athletinnen in der rhythmischen Sportgymnastik zwischen 15 und 22 Jahren. Mascha läuft ein wenig die Zeit davon.
"Mascha ist in der Entwicklung gestoppt." Yuliia Pomarzhanska
"Sie hat von einer Sportkarriere geträumt. Aber sie ist in der Entwicklung gestoppt, weil es hier einen ganz anderen Stil im Training gibt. Als sie das erste Mal vom Training kam, sagte sie: 'Okay, ich kann klatschen, ich kann stampfen - was mache ich hier? Tanzen sie? Machen sie Ballett? Oder was ist das?'"
In Gedanken immer in der Heimat
Natürlich hat der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine bei so vielen anderen Familien zu viel mehr Leid geführt als bei ihnen. Das wissen die Pomarzhanskas nur allzu genau. Es ist Teil ihres täglichen Lebens, die schwierige Lage daheim lässt sie nicht los. Während des zweieinhalbstündigen Gesprächs bei Borschtsch und Wareniki ist dreimal Bombenalarm aus Kiew und anderen ukrainischen Städten zu hören. Der Familienvater sieht sich auf seinem Smartphone Nachrichten und Videos an, verfolgt das Geschehen in der Heimat.
Der 24. Februar 2022 hat auch das Leben der Pomarzhanskas unterteilt - in ein "Davor" und ein "Danach". All die Erinnerungen an frühere, weitgehend friedvolle Zeiten, als Wolodimir an der Akademie gearbeitet hat und die Söhne Ivan und Zhenia dort an ihren fußballerischen Fähigkeiten feilten. Jetzt kicken sie in der Nähe des Wohnhauses auf einem Hinterhof. Und dann ist da noch Mascha, die im Alter von fünf Jahren an Wettkämpfen in Kiew teilnahm und ihre ersten Goldmedaillen und Pokale gewann - wie bei einem Wettbewerb in Cherson, das später acht Monate lang unter russischer Besatzung stand.
Der Freitag, an dem sich der Kriegsbeginn jährt, wird ein trauriger Tag für alle sieben sein. Es hat seit dem 24. Februar 2022 schon so viele schreckliche Nachrichten aus der Heimat gegeben. Aus Irpin, Butscha, Bachmut, Soledar und vielen anderen Orten. Da kann die Stimmung einfach keine andere sein.
In der Ukraine fünfmal pro Woche Training
Für Mascha ist an dem Tag Training. Bei HT 16 finden zwei Einheiten pro Woche statt. Im Vergleich zum Pensum in der Ukraine sei das aber wenig. Sehr wenig, wie Yuliia Pomarzhanska betont. Dort habe ihre Tochter fünfmal pro Woche trainiert und in den Ferien von 10 bis 18 Uhr. "Sie wundert sich noch immer, dass es hier so leicht ist. Sie fragt sich: 'Was will ich dort?'" Mascha sei sehr traurig darüber. "Denn sie realisiert natürlich, Potenzial zu haben, Energie, all das. Ich hoffe weiter, dass sie Erfolg haben kann", sagt ihre Mutter.
"Sie hat viel Talent, ist auch vom Charakter stark." Oksana Yatsyshyna, Maschas Trainerin
"Sie braucht eigentlich individuelles Training", sagt auch ihre jetzige Trainerin Oksana Yatsyshyna: "Sport ist Individualität. Ich habe für Mariia leider nicht genug Zeit, denn ich habe 20 Kinder in meiner Gruppe. In Kiew war sie in der Hauptschule für Sportgymnastik, trainierte fünfmal in der Woche, alles war viel intensiver. Deswegen ist ihr Level bei der Flexibilität, dem Stretching viel höher als der Durchschnitt. Mariia war eine der Besten dort."
Im Training prallen auch Kulturen aufeinander. "Das ukrainische System ist mehr Disziplin. Ihre Mama sagt auch zu mir: 'Sei strenger mit ihr. Frage nicht danach, was sie sich wünscht, setze deine Ansichten durch.' Und dann sage ich auch mal zu Mariia: 'So, du musst das jetzt tun!' Aber das ist nicht so einfach für mich", erzählt Yatsyshyna lächelnd.
Stuttgart als einzige kleine Chance in Deutschland
Was sie ihrer Topschülerin rate? Die HT-16-Trainerin braucht nicht lange zu überlegen. "Wenn sie olympisch werden möchte, müsste sie nach Stuttgart gehen." Dort befindet sich der Bundesstützpunkt. "Hier findet man diese Intensität nicht. Aber grundsätzlich: Die Deutschen hatten in der Sportgymnastik noch keinen Erfolg, niemals. Stuttgart hat nie einen Oympiasieger hervorgebracht. Dies ist das falsche Land für Sportgymnastik, wenn man ganz nach oben will."
"Wir leben jeden einzelnen Tag und sehen dann." Yuliia Pomarzhanka
Für die Familie Pomarzhanska kommt ein Umzug in die baden-württembergische Landeshauptstadt aber erst einmal nicht in Betracht. Nach vier Ortswechseln innerhalb Deutschlands sind sie im Norden Hamburgs endlich angekommen. "Die Eigentümer sind sehr freundlich. Sie wollten, dass wir hier einziehen. Das Haus hat auf uns gewartet", sagt Yuliia Pomarzhanska. Zudem sind ihre fünf Kinder - nach vielen Monaten des Wartens - inzwischen im deutschen Schulsystem integriert.
Aber natürlich sind da weiter die Erinnerungen an die Zeit vor dem 24. Februar 2022 - und die Hoffnungen, dass es irgendwann wieder so wird. "Wir wissen nicht, ob es zurückgeht. Wir leben jeden einzelnen Tag und sehen dann", sagt Yuliia Pomarzhanska: "Physisch bin ich hier, aber mit meinem Herzen bin ich in der Ukraine. Ich liebe mein Land sehr."