Stand: 11.10.2018 10:47 Uhr

Werder und das "Wunder von der Weser"

von Andreas Bellinger, NDR.de

Lemkes Coup mit Shopping-Tour am Spieltag

Während die Zeitungen titelten: "Ost-Berliner sangen: Wir sind die Meister von Deutschland", tüftelte auch Manager Lemke (1981 bis 1999) an der Rehabilitation - und der Zufall spielte ihm vor dem Rückspiel, das wegen Olympia in Seoul erst fünf Wochen später stattfand, in die Karten. Weil der Bus der Berliner im Stau steckenblieb, verschob er die geplante Shopping-Tour für die BFC-Spieler kurzerhand auf den nächsten Morgen. Einkaufen mit Werder-Rabatt. Aber die Konzentration am Spieltag war futsch. Doll: "Wir haben uns mehr Gedanken um unsere Elektrogeräte als um das Spiel gemacht. Das hat Willi geschickt eingefädelt." Trainer Jürgen Bogs war machtlos: "Die Spieler waren prächtig abgelenkt von der eigentlichen Mission." Werders Spieler verschaffte die ungewöhnliche Vorbereitung auf das Rückspiel im Weserstadion einen zusätzlichen Kick. "Nehmen die das Spiel nicht mehr so ernst?" fragte sich nicht nur Meier.

"Kommt raus, ihr Feiglinge, es wird furchtbar!"

Fußball, Europapokal, Werder, Wunder, Kutzop © Imago Foto: Imago
Mit dem Elfmeter von Michael Kutzop beginnt Werders Aufholjagd. BFC-Torwart Bodo Rudwaleit ist machtlos. Thomas Doll, Norbert Meier und Hendrik Herzog (v.r.) schauen zu.

Motiviert bis unter die Haarspitzen donnerte Werder-Stürmer Manfred Burgsmüller gegen die Kabinentür der Gäste und rief: "Kommt raus, ihr Feiglinge, es wird furchtbar!" Ernst erinnert sich daran: "Wir sind rausgegangen und wiederum nicht rausgegangen." Die Bremer nutzten die greifbare Verunsicherung erbarmungslos aus. Dynamo-Kapitän Frank Rohde half ihnen zusätzlich mit einer Notbremse, die Michael Kutzop per Elfmeter (22.) eiskalt bestrafte. "Wir wussten", so Hermann, "wenn wir jetzt noch einen drauflegen, bricht der Gegner auseinander." Doch die Aufholjagd geriet ins Stocken. 23.500 Zuschauer im Stadion hatten zur Pause den Glauben an die Wende fast verloren. Bis Hermann (55.) das Tor seines Lebens gelang. Aus 20 Metern zirkelte er den Ball in die Maschen, was Doll ("Nie wieder hat er so ein Tor geschossen") noch immer staunen lässt. "Stimmt", sagt der Schütze des Traumtores grinsend: "Ich habe den Ball noch nicht mal auf dem Fuß gespürt, da war er schon drin." Die Spieler lagen sich in den Armen, die Fans waren aus dem Häuschen und auf der Tribüne tanzte Lemke und ballte euphorisch die Fäuste. Nun ging die Post erst richtig ab.

Sonderbewachung für umworbenen Thom

Die Berliner liefen nur mehr wie Falschgeld über den Platz, Doll und Thom waren vollends von der Rolle. "Wir waren beide nicht gut", gesteht der spätere HSV-Trainer Doll: "Vielleicht hatte er noch einen Kontakt mehr als ich. Ich hatte zwei oder drei." Rohde ist noch immer bedient: "Das war für uns ein Riesen-Spiel und dann bekommst du so ne‘ Bulette.“ Und Thom spricht aus, wass alle dachten: "Schlimmer geht's nimmer." Dem 23-jährigen wurden schon im Jahr vor dem Zerfall der DDR Kontakte in die Bundesliga nachgesagt. Udo Lattek wolle ihn nach Köln holen, hieß es. Aber legal raus aus der DDR, das war unvorstellbar. Zumal ihn die Stasi besonders im Auge behielt. Thom dürfe "keinesfalls mit westdeutschen Journalisten sprechen", soll Mielke höchstpersönlich verfügt haben.

Schaaf trifft und eröffnet ein Tollhaus am Osterdeich

Fußball, Europapokal, Werder, Wunder, Schaaf © WITTERS Foto: Valeria Witters
5:0-Torschütze Thomas Schaaf (l.) wird von Thomas Wolter geherzt. Es war der Schlusspunkt einer rauschenden Ball-Nacht.

Nur noch eine halbe Stunde - und noch immer fehlte das Tor zum Gleichstand. Doch dann kam die 62. Minute: Freistoß Meier, Riedle fiel der Ball vor die Füße und der Goalgetter staubte ab. Noch 20 Minuten. Endlich platzte bei Burgsmüller der Knoten. Sein Flugkopfball landete rechts im Tor (71.). 4:0, aber noch war das Spiel nicht aus. 90. Minute: Riedle spielte diagonal, Thomas Schaaf erreichte den Ball an der Strafraumgrenze, zog ab und machte alles klar. 5:0 und Schluss: Werder war weiter - das Stadion am Osterdeich ein Tollhaus.

Doll: "Schlimmste Rückfahrt meiner Karriere"

"Wir waren alle außer Rand und Band", schildert Lemke das emotionale Tohuwabohu. Für Doll begann die "schlimmste Rückfahrt meiner Karriere; weil wir uns in die Hosen gemacht haben." Die Stasi hatte eine andere Erklärung und brachte diese so zu Papier: "Die wesentliche Ursache besteht darin, dass die Mannschaft des BFC ideologisch und moralisch nicht auf das Spiel eingestellt war. Die Delegation hatte keine funktionsfähige Leitung, die allen Erfordernissen des Aufenthalts in Bremen gerecht wurde." Trainer Bogs bekam einen Verweis. Und Werder? Die Bremer schieden im Viertelfinale gegen den AC Mailand unglücklich aus. Kein "Wunder von der Weser".

Dieses Thema im Programm:

Sportclub | 12.05.2019 | 23:15 Uhr

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