Kommentar: Länderspiel-Reisen sind falsch und fahrlässig
Fußball-Bundesligist Werder Bremen lässt keine Nationalspieler mehr in Risikogebiete reisen. Zusehends stellt sich die Frage, wie sinnvoll Länderspiele in der aktuellen Pandemie-Lage sind.
Ein Kommentar von Moritz Cassalette
Die Corona-Zahlen steigen rasant, und Deutschland steht im Vergleich zu anderen europäischen Nationen noch vergleichsweise gut da. Große Reisegruppen jetzt durch den Kontinent, einzelne Spieler um die ganze Welt zu schicken, ist falsch und fahrlässig. Die Haltung der Vereine wie Werder Bremen ist nachvollziehbar - und von der FIFA legitimiert. Und zwar aus mehreren Gründen.
Denn schon bei den zurückliegenden Länderspielen im Oktober haben sich einige Bundesligaspieler auf ihren Reisen infiziert, unter anderem drei Profis der TSG Hoffenheim. Andrej Kramaric - bis dahin der beste Stürmer der Bundesliga - konnte seitdem noch nicht wieder spielen. Und es trifft auch Weltstars: Cristiano Ronaldo hat sich neulich auf einer Reise mit Portugals Mannschaft infiziert. Es kann halt schnell passieren. Länderspielreisen erhöhen das Risiko unnötig.
Immer mehr positive Tests im Profifußball
Corona-Fälle bringen die Vereine in Not. Schon jetzt gibt es immer mehr positive Tests im deutschen Profifußball. Obwohl die Bundesligen und ihre Clubs ihr Hygienekonzept konsequent umsetzen.
Hinzu kommen die notwendigen behördlichen Auflagen. Das Gesundheitsamt Bremen etwa hat angeordnet, dass Spieler nach ihrer Rückkehr aus internationalen Risikogebieten - und momentan ist fast ganz Europa ein Risikogebiet - für fünf Tage in Quarantäne müssen. Ein fairer Ligabetrieb ist dann nicht mehr möglich.
Verbände haben keine finanziellen Sorgen
Bei allem Verständnis für die Verbände, die durch Spielabsagen im Frühjahr unter Zeitdruck geraten sind und mit Länderspielen Geld verdienen - sei es durch Werbeeinnahmen, TV-Erlöse und im Normalfall durch Ticketverkäufe: In einer Zeit, in der weltweit Milliarden Menschen unter der Pandemie leiden, in der in Europa größte Kraftanstrengungen nötig sind, um die rasant steigenden Zahlen in den Griff zu bekommen, sind überflüssige Reisen zu sportlich bedeutungslosen Spielen nicht nur ein falsches Signal, sondern auch gefährlich. Oder um es mit den Worten Hannovers Trainer Kenan Kocak zu sagen: "Das finde ich äußerst verantwortungslos und passt nicht in diese Zeit."
Alle müssen Opfer bringen
Zumal die meisten Verbände keine finanziellen Sorgen haben. Der Deutsche Fußball-Bund zum Beispiel hat sein Eigenkapital im zurückliegenden Geschäftsjahr auf 169,6 Millionen Euro erhöht. Fehlende Vermarktungsgelder aus Freundschaftsspielen sollten also zu verkraften sein, auch wenn es weh tut. Aber Opfer bringen müssen jetzt gerade alle. Und es dürfte auch kein Argument sein, den Menschen in schwierigen Zeiten ein bisschen Ablenkung schenken zu wollen. Wann hatten Sie das letzte Mal Spaß an der deutschen Nationalmannschaft?
Auch die UEFA muss sich die Frage gefallen lassen, warum sie die Spiele der ungeliebten Nations League unbedingt durchziehen muss, während der Kontinent größte Sorgen hat. Es reicht, dass sie die europäischen Vereinswettbewerbe wie die Champions League durchpeitscht.
Wollen die Sportler überhaupt in Risikogebiete reisen?
Und es betrifft ja nicht nur den Fußball. Die deutsche Handball-Nationalmannschaft fliegt am Sonntag für eine Partie nach Estland, die Basketballer sollen Ende des Monats für Spiele nach Südfrankreich. Und was mir bei allem viel zu kurz kommt: Wollen die Sportler in Risikogebiete reisen? Und wenn nicht: Können sie guten Gewissens absagen? Die ehrlichen Aussagen von Handball-Nationalspieler Hendrik Pekeler im NDR Interview haben mich nachdenklich gemacht. Seine Frau und die Kinder werden am Sonntagabend nicht zuhause sein, wenn ihr Mann und der Papa aus Estland zurückkommt - um die Kinder zu schützen. Die Pekelers haben ein zwei Monate altes Baby und zwei Töchter mit leichtem Asthma. Ich finde das alles ziemlich verrückt.
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