Stand: 22.06.2018 09:30 Uhr

"Erdogan ignoriert sämtliche islamischen Werte"

Am Sonntag finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Der amtierende Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, tritt ein weiteres Mal an. Aber auch die Opposition macht sich Hoffnungen. In Deutschland haben viele Türkinnen und Türken bereits abgestimmt. Was fasziniert sie an dem Präsidenten und seiner Politik?

Ein Kommentar von Canan Topçu

Canan Topcu © Canan Topçu Foto: Christoph Boeckheler
Die Autorin Canan Topçu zur Frage eines europäischen Islams

Noch nie war ich vor bevorstehenden Wahlen so aufgeregt wie diesmal. Ich bange um das Ergebnis. Denn davon hängt es ab, wie es in der Türkei weitergehen wird. Also, ob künftig nur ein Mann das Sagen haben wird oder ob es doch noch ein Zurück gibt zum demokratischen Rechtsstaat.

Wenn nicht gleich an diesem Sonntag, dann wenigstens bei einer Stichwahl am 8. Juli hoffe ich auf einen Wechsel. Ich gestehe: auch aus ganz persönlichen Gründen. Denn dann könnte und würde ich auch wieder in mein Herkunftsland reisen, wo ich aus Sorge vor Schikanen oder gar einer Festnahme schon länger nicht mehr war.

Warum gehen Menschen in Deutschland Erdogan auf den Leim?

An diesen Parlaments- und Staatspräsidenten-Wahlen nehmen auch Auslandstürken teil. Sie haben bereits in den Konsulaten abgestimmt. In Deutschland ging die Hälfte der knapp 1,5 Millionen Wahlberechtigten an die Urne. Mich beschäftigt gar nicht so sehr die Frage, warum Menschen an Wahlen eines Landes teilnehmen, in dem sie gar nicht leben. Sondern warum Frauen und Männer, die hier die Vorzüge der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit genießen, einem Politiker wie Erdoğan auf den Leim gehen, in dessen Amtszeit Korruption und Vetternwirtschaft grassieren.

Und so richtig aus der Fassung bringt mich, dass gerade diejenigen, die sich als fromm definieren, einen Politiker unterstützen, der lediglich in seinen Reden fromm ist. Es ist nämlich so, dass vor allem Menschen aus dem traditionellen und religiösen Milieu den Staatspräsidenten und die AKP unterstützen. Und es ist die Mehrheit der wahlberechtigen türkischen Staatsbürger hierzulande, die den Autokraten in Ankara anhimmelt.

Erdoğans vermeintlicher Einsatz für fromme Türken

Hört man sich bei Erdoğan-Anhängern hierzulande um, dann wird meist als Grund für die Sympathie genannt, dass sich die Türkei erst in seiner Regierungszeit fortschrittlich entwickelt habe. Da ist die Rede von Brücken, Straßen und Krankenhäusern, die er habe bauen lassen. Gelobt wird die verbesserte Dienstleistung in der öffentlichen Verwaltung und im Gesundheitssektor. Erdoğan habe die Wirtschaft angekurbelt, und von dem Aufschwung profitiere endlich auch das Volk. Ein immer wiederkehrendes Argument ist: Erst seit Erdoğan an der Macht sei, würden fromme Türken nicht mehr diskriminiert und könnten auch Kopftuchträgerinnen an die Universität.

Ja, das stimmt, die AKP-Regierung unter Erdoğan hat das Kopftuchverbot aufgehoben. Damit hört aber auch schon auf, was ihm und seiner angeblich islamischen Partei im Sinne der Frömmigkeit zugute gehalten werden kann.

Über die Autorin

Die Journalistin und Autorin Canan Topçu, 1965 in der Türkei geboren, lebt seit ihrem achten Lebensjahr in Deutschland. Nach ihrem Studium absolvierte sie ein Volontariat bei der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung". Danach war sie Redakteurin bei der "Frankfurter Rundschau". Sie arbeitet nun freiberuflich für Hörfunk, Print- und Online-Medien. Spezialisiert hat sie sich auf die Themen Integration, Migration, Islam und muslimisches Leben in Deutschland. Außerdem ist sie Dozentin - u.a. an der Hochschule Darmstadt.

Die islamische Ethik wird nicht berücksichtigt

Es ist offensichtlich, dass Erdoğan politisch jenseits von Ethik und Moral handelt und die AKP-Regierung  sämtliche islamische Werte ignoriert. Oppositionelle Medien haben immer wieder den Lug und Betrug aufgedeckt und mit stichhaltigen Dokumenten belegt. Folge davon war und ist: Kritische Medien werden dichtgemacht und Journalisten eingesperrt

Der wirtschaftliche Aufschwung des Landes basiert zum großen Teil auf Korruption und Vetternwirtschaft. Und der Missachtung von Recht und Gesetz. Mitgefühl und Achtung von Mensch und Natur,  Nächstenliebe und Toleranz, Demut, Güte und Aufrichtigkeit - also nicht zu lügen und zu betrügen und zu verleumden, - all das macht die islamische Ethik aus. Der Bauboom beispielsweise geht einher mit der Rodung von Wäldern  und entspricht in keiner Weise den Standards des Naturschutzes. Nachhaltigkeit, auch das ein Element der islamischen Ethik, ist bei kaum einen der Bauprojekte berücksichtigt worden.

Lassn Sie die Menschen in der Türkei entscheiden!

Es ist erstaunlich, dass gerade die Menschen, die sich als religiös definieren, keinerlei Probleme mit einem Politiker haben, der in seinem Handeln alles andere als fromm ist und dessen Politik damit nicht mit islamischer Ethik kompatibel ist.

Weist man hierzulande Erdoğan-Anhänger auf diesen Widerspruch hin, dann bekommt man Antworten wie etwa: "Es gibt keine Alternative. Die anderen sind doch auch nicht besser." Das stimmt so nicht. Um Diskussionen zu umgehen, antworte ich so: "Wenn Sie keine Alternative sehen, dann bleiben Sie zuhause und versündigen Sie sich nicht!  Lassen Sie Menschen, die in der Türkei leben, über die Zukunft des Landes entscheiden."

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 22.06.2018 | 15:20 Uhr

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