Stand: 25.09.2017 12:18 Uhr

Philipp Schmids Pilgerblog 2017

2. Etappe: Von Neubukow nach Wismar

Stille Wege - besondere Orte. Eine gute Stunde vor Mitternacht, allein in der dunklen Heilgen-Geist-Kirche Wismar. Was für ein wundervoller, erhabener Ort. Ein Kraftort. Mir kommt in den Sinn, "was für eine Ehre, hier sein zu dürfen". Aber Ehre trifft es nicht genau. Ein Glück.

Kapelle in der Heiligen Geist Kirche Wismar © NDR.de Foto: Philipp Schmid
Herberge für eine Nacht: Die Kapelle der Heil

Bei schwacher Beleuchtung sitze ich still in einer Kirchenbank und versuche, meine Gedanken zu ordnen. So einfach und strukturiert ein Pilgerweg ist, so unüberschaubar und überwältigend sind oft die Eindrücke. Um mich herum die herrlichen Wandmalereien, über mir die gewaltige Bretterdecke, vor mir der atemberaubende Altar, im Dunkeln nur schemenhaft zu erkennen. Zeugnisse des Glaubens und der Kultur aus vielen Jahrhunderten. Wie oft mögen Pilger hier gesessen, gestaunt, gedankt haben.

Historische Nachtruhe

Seit über 600 Jahren werden hier Pilger aufgenommen und beherbergt. Dass wir als Pilgergruppe direkt in der Kirche übernachten dürfen, in der Kapelle direkt am Chor, hat uns alle fasziniert und berührt. 1371 wurden diese Mauern errichtet, in denen heute Nacht auf Feldbetten und in Schlafsäcken unsere müden Beine Ruhe finden. (Dass sie früher als Beinhaus genutzt wurde, werde ich den drei Pilgerinnen wohl besser erst morgen früh verraten). Sie schlafen vermutlich schon.

Kräfteraubender Tag

Der heutige Tag war kräfteraubend und anstrengend. Faszinierend, wie so ein Kraftort sofort die Reserven wieder auffüllt. Pastor Cremer hat uns sein Badezimmer als Duschgelegenheit geöffnet. Freundlich und still, ohne große Worte. "Sie sehen abgekämpft aus", bemerkte er bei unserer Ankunft. Nach 30 Kilometern Gehen waren selbst die vier Stufen zum Kirchenportal noch eine letzte Hürde. Hängende, schwere Schultern, bleierne Muskeln, verspannte Nacken, aber beim ersten Schritt ins Gotteshaus schauen alle fasziniert nach oben.

Zu Ruhe kommen

Grade schlägt die Uhr elf. Dunkelheit, Stille - jetzt auch draußen. Laute, erfüllte Stille, auf die man hören kann. Einen Teil des Weges sind wir heute schweigend gegangen, jeder für sich, in seinem eigenen Tempo. Berührend und beruhigend, mal auf sich selbst zu hören, in sich hinein zu hören und sich beim Denken zuzuhören. Zweifel zulassen, sich von Dingen entfernen, um sich ihnen dann umso mehr wieder anzunähern. Für mich bedeutet auch das Pilgern: ohne große Not, ohne einschneidenden Anlass so eine Reise zu beginnen, jede Gewissheit, jede Dankbarkeit, jedes Glücksempfinden zu hinterfragen und auf die Probe zu stellen. Lange abwägen, still mit sich streiten, alle Gegenpositionen einnehmen. Versuchen, sich selbst eindringlich vom Gegenteil zu überzeugen, um dann festzustellen: Nein, ich bleibe dabei. Ich bin mir sicher, ich bin dankbar, ich bin glücklich. Ich habe eine Adresse, an die ich mich wenden kann mit Zweifeln, Fragen und Bitten nach Hilfe. Was für eine Ehre, hier sein zu dürfen, was für ein Glück.

Still, im dunklen Gotteshaus.

Adressat und Absender sind in einem Raum.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 25.09.2017 | 16:20 Uhr

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