Eine historische Aufnahme zeigt Werftarbeiter mit Besen auf Werftgelände der HDW in Kiel unterwegs. © NDR

Zeitreise: Wie aus "Gästen" Mitbürger wurden

Stand: 24.06.2022 12:03 Uhr

"Gastarbeiter" hat man sie genannt. Menschen, die Deutschland bis in die 1970er Jahre angeworben hat, um den Mangel an Arbeitskräften zu überbrücken. Ankommen war nicht vorgesehen.

von Isabelle Breitbach

Der Kieler Hauptbahnhof: Ein Ort der Abschiede, aber auch der Ankünfte. Heute ist es auch ein Ort der kulinarischen Angebote. Nicht nur deutsche Brötchen, auch türkischer Kebab und Börek und gegenüber Pizza und Pasta. Heute ist das selbstverständlich. Damit haben nicht einmal diejenigen gerechnet, die diese kleinen Bissen aus ihrer Kultur einst mitgebracht haben. Orhan Aldemir und Giancarlo Orrù sind zwei von ihnen: "Gastarbeiter" aus der Türkei und Italien.

Kulturschock: Ankunft in Kiel

Es war Neuland für Orhan Aldemir, als er 1970 hier ankam. Sein Zug erreichte Kiel an einem Märzabend und er staunte noch über die hell erleuchtete Stadt, die vielen Fahrzeuge auf der Straße. Eines davon ein Bus, den sein künftiger Arbeitgeber, die Howaldtswerke Deutsche Werft, geschickt hatten, um die Neuen abzuholen. Der Moment, in dem ihm zum ersten Mal ein wenig Bange wurde, so weit weg von Heimat und Familie: "Dann sitzt Du hier, kennst keine Leute."

Eine historische Aufnahme zeigt Werftarbeiter aus einer Halle in Kiel gehen. © NDR
Auch die Nordschau berichtete damals von der Ankunft von Gastarbeitern aus der Türkei und Italien in Kiel.

35 Türken, angehende Werftarbeiter, seien es gewesen, erinnert er sich. Alle waren aus einer anderen Stadt. "Die habe ich alle zum ersten Mal hier am Bus getroffen." Ein Bus voller Männer, für die es in ihrer Heimat keine Arbeit gab, hier dagegen jede Menge. Eine Chance, die sie nutzen wollten. Für Orhan Aldemir war es die zweite in Deutschland, nach seinem Militärdienst. Die Hoffnung auf ein Ingenieur-Studium hatte er schon begraben müssen. Nun war er 25, konnte schon ein wenig Deutsch und wollte Geld verdienen.

Auch Giancarlo Orrù kam am Kieler Hauptbahnhof an, sechs Jahre später. An seinen ersten Eindruck von der neuen Stadt erinnert er sich kaum, umso mehr an seinen knurrenden Magen. "Jung und auch ein bisschen bekloppt" seien sie gewesen - er und seine Freunde. 17 Jungs aus Sardinien, die zweieinhalb Tage unterwegs waren. Ein italienischer Kollege holte sie am Bahnhof ab, ging mit ihnen zum Wienerwald im Sophienblatt. Seine erste deutsche Mahlzeit: ein halbes Hähnchen. "Das habe ich so inhaliert, in zwei Minuten hab ich das weggefressen."

Leben in Kiel: Gäste, die nicht ankommen sollen

Eine historische Aufnahme zeigt eine Straße in Kiel mit dem Portalkran der HDW im Hintergrund. © NDR
Auch die Howaldtswerke in Kiel suchten damals Arbeitskräfte für die Werft.

HDW ließ die "Gäste", die von nun an für sie arbeiten sollen, zu Werkswohnungen auf dem Kieler Ostufer bringen. Orhan Aldemir landete in Dietrichsdorf, Giancarlo Orrù in Wellingdorf. Spartanische Unterkünfte ganz in der Nähe ihrer Arbeitsstätte, und doch unterschiedlich komfortabel. Das vierstöckige Backsteinhaus im Groß Ebbenkamp, in dem Orhan Aldemir anfangs lebte, bewohnten ausschließlich türkische Gastarbeiter. Zu sechst auf einem Zimmer. Privatsphäre oder gar Rücksicht aufeinander, das habe es da nicht gegeben, erinnert er sich. Ob Zimmer, Küche oder Bad: überall herrschte ständig Schichtbetrieb. Immer lief ein Radio. Und rundherum: nichts. "Wir haben praktisch gar keinen Kontakt gehabt. Wir gingen morgens direkt von hier zu Fuß zur Arbeit, kamen wieder, haben Essen gekocht, Wäsche gewaschen." Manchen habe er geholfen, ein bisschen Deutsch zu lernen. Ankommen, das war diesem Ort undenkbar. Aber 1970 dachte daran auch kaum jemand. Ihre Zeit als Gastarbeiter in Kiel sollte schließlich begrenzt sein.

Ungleiche Verhältnisse

Eine harte Anfangszeit, viele Reibereien: Daran erinnert sich auch Giancarlo Orrù - vor allem, weil die meisten seiner Freunde Kiel schon nach wenigen Monaten wieder verließen. Zu groß war das Heimweh: "Ich habe meine Kumpels weinen sehen. Die wollten wieder zu Mama." Er nicht. Schließlich hatte er sich geschworen, durchzuhalten und allen zu beweisen, dass er es schafft - allein in der Fremde. Und im Erlenkamp, wo er in den ersten zwei Jahren lebte, hatte er es gut getroffen. Ein Dreierzimmer mit seinen Freunden, eine Wohnung mit Dusche und Toilette, ein Kühlschrank in der Küche. "Wir waren sogar überrascht, dass wir so eine schöne Wohnung kriegen", erzählt er. Sogar eine Putzfrau habe es gegeben in dem Haus, in dem neben Italienern auch Portugiesen und Türken lebten, die meisten noch grüner hinter den Ohren als er damals, mit 18.

Isoliert lebten sie hier keineswegs, fielen aber auf - als einzige Ausländer unter deutschen Familien, mit einer Schule in der Nachbarschaft. Die Reaktionen auf die "Südländer", die mit Händen und Füßen sprachen, Frisuren und Klamotten trugen, die hier erst Jahre später in Mode kommen sollten: unterschiedlich. Argwöhnische Blicke, Gelächter, aber auch eine gewisse Faszination, zumindest bei den Schulmädchen. In eines davon verliebte sich Giancarlo. Das half ihm durch die Phase, in der auch er dachte: "Ich fahre wieder nach Hause."

Integration auf der Werft

Die Gastarbeiter bekamen die härtesten Arbeiten zugeteilt: schmutzig, oft auch gefährlich - und dafür zunächst auch noch unterdurchschnittlich bezahlt. Orhan Aldemir übernahm als gelernter Schmied Schlosserarbeiten in der Bordmontage, anfangs als einziger Gastarbeiter in seiner Kolonne. Giancarlo Orrù kam in die Schweißerei. Beide hatten Verständigungsprobleme, gerade mit Kollegen aus der alten Garde, die ihnen das Leben schwer machten. "Die ersten zwei Jahren waren schrecklich", sagt Orrù. "Ich musste lernen, mich durchzusetzen."

Unterstützung fanden beide in ihrer Gewerkschaft, der IG Metall. Die leistete schon Integrationsarbeit, als in Kiel noch gar nicht darüber nachgedacht wurde, dass viele "Gäste" womöglich nicht zurück in ihre Heimat gehen. Dass sie nicht weniger, sondern mehr werden. Zum Beispiel, weil sie ihre Frauen nach Deutschland holten, so wie Orhan Aldemir, und hier eine Familie gründeten. Als

Als sich die Kieler Ratsversammlung 1977 zum ersten Mal eingehend damit auseinandersetzte, wie man damit umgehen sollte, dass sich die Zahl der Ausländer in der Stadt innerhalb von zehn Jahren verdreifacht hatte, und die größte Gruppe, Gastarbeiter aus der Türkei und ihre Familien, weiter in ihrer eigenen Blase lebten, engagierte er sich bereits für andere Gastarbeiter. In der Gewerkschaft gründeten sie 1973 einen Migrationsausschuss, der für Lohngerechtigkeit kämpfte und auch Konflikte regelte.

Kein Zurück: Ankommen in der neuen Heimat

Zwei ältere Männer stehen an einer Straße in einem Wohnviertel in Kiel. © NDR
Orhan Aldemir und Giancarlo Orrù kamen in den 1970er Jahren als sogenannte Gastarbeiter nach Kiel.

In der Schweißerei kümmerte sich der Vertrauensmann Hans-Ulrich Stangen um alle Probleme, die auftauchten. Zusammen mit den Gastarbeitern. "Sie waren immer dabei", sagt er nicht ohne Stolz, "auch heute noch, als Rentner". Ihre großen Ziele, eine Solidarität unter den Werftarbeitern und eine Angleichung der Lebensverhältnisse, betont er, hätten sie so erreicht. Auch Giancarlo Orrù und Orhan Aldemir bekamen hier Rückhalt auf ihrem Weg - und haben bei HDW Karriere gemacht. Orrù wurde Meister und Aldemir kam seinem Traum vom Ingenieurstudium nach einer Umschulung zum Konstrukteur sehr nahe. Ihre Erfolgsgeschichte spiegelt eine Ausstellung in der Alten Metallgießerei wider. Aber auch in ihren Familien. Ihre Kinder arbeiten fast alle in den Kieler Werften. Auch deshalb ist Weggefährte Hans-Ulrich Stangen ist sich sicher: "Da kräht heute kein Mensch mehr danach: Hast Du migrantischen Hintergrund oder nicht?"

Ein, zwei Jahre Geld verdienen, ein bisschen Geld sparen, zurückgehen und in der Türkei ein Haus bauen: Es ist mehr als 45 Jahre her, dass Orhan Aldemir diesen Plan verworfen hat. "Sollst Du zurück? Sollst Du nicht zurück?" Spätestens nach der Geburt seines zweiten Kindes haben er und seine Frau sich diese Fragen nicht mehr gestellt. "Für mich ist das hier das Land, in dem mein Leben ist, in dem meine Familie gewachsen ist." Seine Kinder, so sagt er, hatten es hier besser. Sie wären in der Türkei nicht glücklich geworden.

Die Frage, ob er einmal zurückgeht nach Sardinien. Für Giancarlo Orrù hatte sie sich erledigt, als er sich in Kerstin verliebte. Das Schulmädchen, das 1976 ein paar Häuser weiter im Erlenkamp lebte, ist seit 40 Jahren seine Frau. Nach einer Weile Versteckspiel hat ihre Familie ihn mit offenen Armen aufgenommen. Einfach sei es trotzdem nicht gewesen am Anfang, aber: "wir haben es durchgestanden - und es hat funktioniert". Dass er über die Jahre Kieler geworden ist, würde er nicht sagen. Auch wenn er keinen Zweifel daran hat, dass hierbleiben die richtige Entscheidung war, in der Stadt, die ihm fast alles gegeben hat. Ein wenig verändert habe er sich schon, zum Beispiel, wenn es um Pünktlichkeit geht. "Aber in mir schlägt ein sardisches Herz."

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Dampflokomotive aus dem 19. Jahrhundert. © dpa - report Foto: Votava

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 26.06.2022 | 19:30 Uhr

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