Mann hält Hand eines sich auflösenden Kindes. © xGaryxWatersx 11592339

Wenn der Vater zum Fremden wird

Stand: 28.08.2022 06:00 Uhr

Wenn ein Elternteil nach der Trennung dafür sorgt, dass das andere Elternteil das gemeinsame Kind nicht mehr sieht, spricht man von Eltern-Kind-Entfremdung. Burkhard Röttger und der Verein Väteraufbruch wollen, dass das nicht mehr so leicht ist.

von Anne Passow

Seine Tochter ruft ihn heimlich an, wenn die Mutter gerade nicht da ist. "Sie will nicht, dass die Mutter es erfährt, weil sie Angst hat, dass sie sie dann sauer wird und sie ablehnt." Der Mann, der diese Situation beschreibt, sitzt an einem Abend mit anderen Männern des Kreisvereins Lübeck vom Väteraufbruch für Kinder um einen Tisch eines freigeräumten Carports am Rande von Lübeck. Er will wissen, was die anderen von dieser Situation halten. Es stehen Salzstangen und Getränke auf dem Tisch. Die meisten hier kennen sich, es wird geredet, geschimpft, gelacht - die Grundstimmung aber ist ernst. Frustration liegt in der Luft, bei einigen spürt man tiefe Verzweiflung. Alle hier berichten von einer Grunderfahrung: Nach der Trennung von ihrer Partnerin sehen sie ihre Kinder nicht mehr - oder nur mit viel Kampf.

"Kinder waren völlig verwandelt"

"Die Väter, die hier zusammenkommen, möchten ihre Vaterrolle wahrnehmen. Aber sie können es nicht, weil die Mutter es nicht will", sagt Burkhard Röttger vom Väteraufbruch Lübeck, der an diesem Abend seinen Carport zur Verfügung stellt. Auch er erzählt von zwei Töchtern, die er nicht sieht, seit etwa zehn Jahren nicht. Sie wohnten nicht allzu weit weg, erzählt er, seien inzwischen 16 und 20 Jahre alt. "Anfangs ging es noch, aber die Mutter wollte den Kontakt nicht - und es wurde immer schwieriger", erinnert er sich. Ein Familiengericht habe dann den Umgangsausschluss für ein Jahr beschlossen.

Burkhard Röttger und andere Väter vom Väteraufbruch Lübeck sitzen in einem Carport um einen Tisch. © NDR Foto: Anne Passow
Im Carport von Burkhard Röttger treffen sich die Lübecker Mitglieder vom Väteraufbruch.

Der Gesetzgeber sieht das nach § 1684, Absatz 4, BGB, vor, wenn "dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist." Nach einer Definition des Bundesgerichtshofes (BGH) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist das Kindeswohl dann gefährdet, wenn "eine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Kindesentwicklung abzusehen ist, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt."

De facto gehe es vor Gericht aber häufig darum, das Kind aus dem Loyalitätskonflikt, sich also im Streit der Eltern positionieren zu müssen, herauszunehmen, erklärt der ehemalige Cochemer Familienrichter Jürgen Rudolph. Das Kind bleibt somit bei dem hauptsächlich erziehenden Elternteil. "Das war für mich ein totaler Schock. Und nach dem einen Jahr waren die Kinder völlig verwandelt", beschreibt Röttger.

Kinder wenden sich ab

Seine Kinder lehnten den Kontakt mit ihm plötzlich ab. Röttger versuchte viel. "Ich habe Briefe geschrieben, ich habe Geschenke hingeschickt, es kam fast alles zurück. Auch über die sozialen Medien bin ich blockiert. Die wollen wirklich nichts wissen von mir. Das ist erschreckend." Auch wenn ihm seine Kinder zufällig über den Weg liefen, sie leben ja nicht allzu weit entfernt, wendeten sie sich ab, erzählt er.

Burkhard Röttger vom Väteraufbruch Lübeck schaut in die Kamera. © NDR Foto: Anne Passow
Burkhard Röttger und der Väteraufbruch Lübeck wollen, dass beide Eltern in die Pflicht genommen werden - auch nach der Trennung.

Eltern-Kind-Entfremdung nennen Fachleute das Phänomen, wenn ein Kind sich in einer Trennungssituation stark mit einem Elternteil verbündet. Dahinter stecke oft die Beeinflussung des Kindes durch den anderen Elternteil, die das Kind in einen Loyalitätskonflikt bringt - und dazu, sich die Sicht des Elternteils zu eigen zu machen, bei dem es hauptsächlich lebt, und den anderen Elternteil abzulehnen, sagt der Kieler Familientherapeut Michael Hülsmann.

Rosenkrieg ums Kind

Hülsmann arbeitet auch als gerichtlich zertifizierter Mediator und vertritt die Interessen der betroffenen Kinder. Dabei erlebt er regelmäßig, dass ein Elternteil versucht, das Kind vom anderen Elternteil fernzuhalten. "Innerhalb der Mediation zeigt sich häufig, dass es um einen Rosenkrieg der Eltern geht. Da geht es häufig nicht um das Interesse des Kindes, sondern um Machtinteressen, so eine Art Kriegsführung, wo die Kinder instrumentalisiert werden", fasst er zusammen. Meistens erlebt er, dass es die Mütter sind, die die Kinder von den Vätern fernhalten wollen. "Da wird häufig die Verleumdung eingesetzt. Da wird mit Unterstellungen gearbeitet, was natürlich ganz schwierig ist für den betreffenden Vater dem entgegenzuwirken", beschreibt er. Auch Missbrauchs- oder Gewaltvorwürfe gegen den anderen Elternteil kämen vor.

Keine juristischen Folgen?

Das Problem, das Hülsmann und der Verein Väteraufbruch sehen: Wenn ein Elternteil dafür sorgt, dass das andere Elternteil das gemeinsame Kind nicht mehr sieht, bleibe das in vielen Fällen ohne juristische Folgen. Ein betroffener Vater kann zwar vor Gericht Umgangstermine erstreiten, jedoch bleibe es häufig ohne Konsequenzen, wenn diese Termine nicht eingehalten würden. Nämlich meist dann, wenn das betroffene Kind aussagt, keinen Kontakt mehr haben zu wollen. Dann werde - mit Blick auf das Kindeswohl - oft entschieden, dass kein Kontakt mehr stattfinden solle.

"Falsch, den Kindern die Verantwortung aufzubürden"

"Den Kindern die Verantwortung aufzubürden - das halte ich für völlig falsch, weil man eigentlich weiß: Kinder lieben beide Eltern", sagt Burkhard Röttger vom Verein Väteraufbruch. Familientherapeut Hülsmann betont, dass Kinder, die vorher ein gutes Verhältnis zu beiden Elternteilen hatten, normalerweise nicht von sich aus plötzlich den Kontakt zu einem Elternteil ablehnten. "Sie fühlen sich unter Druck gesetzt, dass sie eine Art Entscheidung treffen sollen. Gerade kleine Kinder dürfen nicht das Gefühl haben, dass sie schuld sind an der Situation", betont er. Die langfristigen Folgen eines Kontaktabbruchs zu einem Elternteil für die Kinder seien individuell sehr unterschiedlich, sagt Hülsmann. Depressionen und Schwierigkeiten im Erwachsenenalter Bindungen eingehen zu können, seien mögliche Folgen. Er plädiert dafür, auch nach der Trennung beide Eltern gleichermaßen in die Verantwortung für die Erziehung des Kindes zu nehmen.

Zahlen zu Eltern-Kind-Entfremdung

Konkrete Zahlen zu den Fällen von Eltern-Kind-Entfremdungen gibt es nicht. Man kann sich nur mithilfe anderer Erhebungen an das Thema herantasten. So gab es laut dem Justizministerium des Landes 2021 insgesamt 1.934 erledigte Verfahren zum Umgangsrecht vor den Amtsgerichten Schleswig-Holsteins - und 98 vor dem Oberlandesgericht.

Laut dem Statistischen Bundesamt Nord gab es 2021 in Schleswig-Holstein rund 4.470 Kinder, die von Scheidungen betroffen waren. Deutschlandweit waren im Jahr 2020 rund 119.100 Kinder von Scheidungen betroffen - im gleichen Jahr wurden bundesweit mehr als 55.300 Verfahren zum Umgangsrecht vor Gericht geführt.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Moin! Schleswig-Holstein – Von Binnenland und Waterkant | 29.08.2022 | 19:20 Uhr

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