Eingangstor des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof. © picture alliance / NurPhoto Foto: Michal Fludra

Staatsanwaltschaft Itzehoe klagt ehemalige KZ-Sekretärin an

Stand: 05.02.2021 14:57 Uhr

1945 hat die Rote Armee das KZ Stutthof nahe Danzig befreit. Die damalige Sekretärin des Lagerkommandanten lebt bis heute im Kreis Pinneberg. Gegen sie ist nun Anklage erhoben worden.

von Julian Feldmann

Die Staatsanwaltschaft Itzehoe wirft der 95-jährigen Irmgard F. vor, Beihilfe bei der Ermordung von mehr als 10.000 Menschen geleistet zu haben. Als Sekretärin und Stenotypistin des Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof in der Nähe von Danzig soll F. zwischen Juni 1943 und April 1945 die Mordtaten unterstützt haben. Die Frau soll "den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von jüdischen Gefangenen, polnischen Partisanen und sowjetrussischen Kriegsgefangenen" Hilfe geleistet haben, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Außerdem wirft ihr die Anklage in weiteren Fällen Beihilfe zu versuchtem Mord vor. Dabei geht es um KZ-Häftlinge, die das Lager überlebt haben.

Irmgard F.
Irmgard F. hat als junge Frau im KZ Stutthof als Sekretärin gearbeitet.
Beschuldigte bestätigte Tätigkeit im KZ

Irmgard F. war nach Kriegsende nach Schleswig-Holstein gezogen und hatte hier weiter als Schreibkraft gearbeitet. Seit sechseinhalb Jahren lebt die Rentnerin nun in einem Altenheim im Kreis Pinneberg. Im Gespräch mit einem NDR Reporter bestätigte F. vor gut einem Jahr, dass sie ab 1943 als Sekretärin für den KZ-Kommandanten Paul Werner Hoppe gearbeitet habe. Von Mordtaten im Lager will sie jedoch erst nach Kriegsende erfahren haben - und das obwohl ihr Arbeitsplatz in der Kommandantur direkt vor dem Haupteingang zum KZ lag.

Dazu, ob Irmgard F. gegenüber den Ermittlern die Tatbeteiligung eingeräumt hat, wollte sich ein Sprecher der Staatsanwaltschaft auf Anfrage nicht äußern. Im Gespräch mit dem NDR machte die Frau Ende 2019 einen geistig gesunden Eindruck. Die Staatsanwaltschaft geht derzeit davon aus, dass F. verhandlungsfähig ist.

Gericht entscheidet über Anklagezulassung

Weil F. während des Tatzeitraums 18 bis 20 Jahre alt war, gilt sie in dem Verfahren als Heranwachsende. Deswegen hat die Staatsanwaltschaft Anklage vor der Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe erhoben. Über die Zulassung der Anklage muss das Gericht nun entscheiden. Gegenüber dem NDR wollte sich F. am Freitag nicht zu den Vorwürfen äußern.

65.000 Tote im KZ Stutthof

Irmgard F. arbeitete ab Mitte 1943 für den Kommandanten des Lagers. In einer Zeugenvernehmung in den 1950er Jahren hatte sie ihren ehemaligen Chef Hoppe als "pflichtbewussten" Vorgesetzten bezeichnet. Über ihren Schreibtisch sei der gesamte Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt gelaufen, sagte F. damals aus.

Im KZ Stutthof und den Nebenlagern wurden von 1939 bis 1945 etwa 65.000 Menschen ermordet. In einer Gaskammer und einem Gaswaggon wurden Menschen mit dem Giftgas Zyklon B umgebracht, andere starben durch eine Genickschussanlage oder wurden mit der Giftspritze getötet. Viele kamen auch durch eine Typhus-Epidemie im Lager ums Leben, die von den Verantwortlichen des KZ nicht eingedämmt wurde.

Ermittlungen seit 2016

Die nun erhobene Anklage gegen Irmgard F. stützt sich auf mehrjährige Ermittlungen. Im Jahr 2016 hatte die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg den Fall an die Staatsanwaltschaft in Itzehoe abgegeben, die dann ein förmliches Verfahren gegen F. eröffnet hatte. Zuletzt beauftragten die Ermittler im vergangenen Jahr einen Historiker mit der Erstellung eines Gutachtens zur Rolle von F. als KZ-Sekretärin in dem Lager. Nach NDR Informationen kam der Gutachter in einem Zwischenbericht zu dem Ergebnis, dass die Arbeit der Sekretärin für den Betrieb des KZ elementar war. Die zuständige Staatsanwältin in Itzehoe erhob Ende Januar nun Anklage.

Späte Ermittlungen gegen KZ-Personal

Erst seit 2011 wird gegen einfache Wachleute und Helfer in Konzentrationslagern, in den systematisch Menschen ermordet wurden, ermittelt. Nachdem das Landgericht München II einen KZ-Aufseher wegen Beihilfe zum tausendfachen Mord verurteilt hatte, fingen die deutschen Strafverfolger an, auch Wachpersonal anderer Lager zu überprüfen. So änderte sich die Rechtspraxis und im vergangenen Jahr wurde etwa vom Landgericht Hamburg Bruno D., ehemals Wachmann im KZ Stutthof, wegen Beihilfe zum Mord in 5.232 Fällen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Die Ermittlungen gegen mutmaßliche Täterinnen und Täter aus der NS-Zeit laufen 76 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs unter erschwerten Bedingungen. Nur noch wenige KZ-Wachleute und mögliche Helfer des Holocaust leben, andere sind wegen ihres hohen Alters nicht mehr vernehmungsfähig. Eine weitere Sekretärin des KZ Stutthof, die in Lübeck lebte, war im vergangenen Jahr verstorben, noch bevor die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen in dem Fall abschließen konnte. Mit F. könnte sich nun erstmals in der jüngeren Geschichte eine KZ-Sekretärin wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht verantworten müssen.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 05.02.2020 | 14:00 Uhr

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