Stand: 09.06.2015 12:22 Uhr

Neue Vorwürfe im "Friesenhof"-Skandal

von Mareike Burgschat, Marika Gantz & Jörg Hilbert

Angelina T. steht vor dem Haus "Campina" in Wesselburenerkoog in Schleswig-Holstein, das vergangene Woche geschlossen wurde. Drei Jahre hat die 17-Jährige insgesamt im "Friesenhof" gelebt, in mehreren Häusern der Kinder und Jugendhilfeeinrichtung. Die junge Frau berichtet von einem System der Unterdrückung und Erniedrigung, zu dem auch körperliche Gewalt der Erzieher gehört habe.

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Ihre Ankunft im Mädchencamp "Nanna" ist ihr besonders im Gedächtnis geblieben. Da ging es zunächst zum "Filzen" - so wurde anscheinend das Ausziehen vor dem Betreuungspersonal genannt. "Dann hieß es, Du ziehst jetzt bitte einmal komplett Deine Klamotten aus. Auch die Unterwäsche. Unterwäsche echt auf Kniehöhe runterziehen, BH komplett abgeben, der wird abgetastet und dann hüpfen, die Arme auseinanderhaben und den Kopf nach hinten, damit die sehen, dass wir nicht irgendwo was verstecken oder festhalten", erinnert sich Angelina T.

Schikanen und erniedrigende Erziehungsmethoden

Panorama 3 hat in den vergangenen Tagen mit mehr als 20 Mädchen gesprochen, die zwischen 2008 und 2014 im Friesenhof untergebracht waren. Sie alle berichten von ähnlichen Schikanen und erniedrigenden Erziehungsmethoden. Am Ankunftstag seien ihnen demnach ihre persönlichen Gegenstände, wie Handy oder Kleidungsstücke, weggenommen worden. Briefe seien geöffnet und gelesen worden, Telefonate hätten nur in Anwesenheit eines Betreuers stattgefunden. Kollektivstrafen seien an der Tagesordnung gewesen: So wurde anscheinend die ganze Gruppe mit bestraft, wenn ein Mädchen sich nicht an die Regeln gehalten hatte.

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Rebecca R.
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"Dann wurden wir gepackt und auf den Boden gedrückt"

Gewalt, Isolation, Schlafentzug: Diese ehemalige "Friesenhof"-Bewohnerin berichtet von einem System der Unterdrückung. 1 Min

Die ehemaligen Bewohnerinnen berichten davon, dass sie regelmäßig zu zwangsweisem Sport angetrieben, teilweise dafür aus dem Schlaf gerissen wurden. Eine weitere Kollektivstrafe soll das so genannte "Aussitzen" gewesen sein. Dabei habe die ganze Gruppe stundenlang stumm beisammen sitzen müssen, bis eine Betreute ein vermeintliches Vergehen gestanden habe. Die Strafen gab es häufig schon für Kleinigkeiten, so die jungen Frauen. So berichtet Angelina T., dass die Gruppe, wegen einer verschwundenen Süßigkeitenpackung "aussitzen" musste. "49 Stunden saßen wir. Davon durften wir vier Mal trinken, zwei Mal Obst essen und einmal Brot. Da haben noch Mädchen aus dem Apartment das Brot geschmiert gehabt und drei Mal auf Toilette gehen. Und Sport haben wir in der Zeit auch drei Mal gemacht."

Zitate der Betroffenen:

 

Denise über das "auf den Boden klatschen": "Dann hat er mich auf den Boden gelegt, hat meine Hand nach hinten gedreht und dann lag ich da fünf Minuten, zehn Minuten, bis ich gesagt habe: Okay, ich mache es jetzt."´

Gewalttätigen Übergriffe der Betreuer

In anderen Fällen soll es mehrere Tage bis zu zwei Wochen hintereinander dasselbe Essen gegeben haben. "Es gab viele, die schon gewürgt haben und gesagt haben, ich kann nicht mehr, ich möchte das nicht mehr essen. Und dann hab ich deren Teller gegessen oder wir haben es untereinander aufgeteilt", erinnert sich Denise K. aus Hamburg. Das Schlimmste für die 20-Jährige sollen die gewalttätigen Übergriffe der Betreuer gewesen sein. Mädchen, die sich nicht an die Regeln gehalten hätten, seien demnach gepackt, auf den Boden "geklatscht" und mit dem Knie des Erziehers weiter in Schach gehalten worden. "Dann meinte er, 'Du machst das jetzt sofort!' und dann meinte ich 'nein!' und dann hat er mich halt auf den Boden gelegt, hat meine Hand nach hinten gedreht und dann lag ich da fünf Minuten, zehn Minuten bis ich gesagt hab, okay, ich mach es", schildert Denise K.

Telefonate mitgehört und Briefe geöffnet

Barbara Janssen, die Heimleiterin des Jugendheims "Friesenhof"
Barbara Janssen, Heimleiterin im "Friesenhof" bestreitet einige der Vorwürfe.

Die Betreiberin des "Friesenhofs", Barbara Janssen, bestätigte gegenüber Panorama 3, dass Telefonate mitgehört und Briefe geöffnet worden seien. Außerdem seien aggressive Mädchen zu ihrem eigenen Schutz festgehalten worden. Alle weiteren Maßnahmen dagegen hätten so nicht stattgefunden. "Ich habe viele Resonanzen von Mädchen, die dankbar sind, das ist die Masse. Wir haben erfolgreich gearbeitet", so Janssen. "Es gibt sicher Mädchen, die nicht glücklich waren bei uns, die eine große Unzufriedenheit rumtragen, wenn man daran denkt, warum man gescheitert ist, ist es einfacher andere Menschen zu finden, die das zu verantworten haben."

Der Kriminologe und Sozialpädagoge Prof. Michael Lindenberg von der Evangelischen Fachhochschule Hamburg warnt davor, die Aussagen der Mädchen als Lüge abzutun. "Wenn Kinder so etwas sagen, dann gehen wir zunächst einmal davon aus, dass sie lügen. Das ist aber eine falsche Vorstellung. Kinder lügen genauso viel und genauso wenig wie Erwachsene."

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Mareike Burgschat, Panorama 3.  Foto: Roman Rätzke

Mareike Burgschat

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Betriebserlaubnis entzogen

Heimleiterin Barbara Janssen betont, dass ihre Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung regelmäßig von der Heimaufsicht in Kiel kontrolliert worden sei. Mittlerweile hat das zuständige Landesjugendamt Schleswig-Holstein zwei Häusern der Einrichtung die Betriebserlaubnis entzogen. Als Gründe wurden unzureichendes Fachpersonal und inakzeptable pädagogische Methoden angegeben. Vor Mitte 2014 will das Landesjugendamt allerdings nichts von den Vorgängen mitbekommen haben. Und das obwohl der Kreis Dithmarschen wegen unhaltbarer Zustände bereits seit 2013 keine Mädchen mehr in den Friesenhof geschickt hat und darüber nach eigenen Angaben auch das Landesjungendamt informiert hat. Nun prüft die Staatsanwaltschaft Itzehoe, ob sich Mitarbeiter des "Friesenhofs" strafbar gemacht haben.

Angelina T., Rebecca R., Denise K. und die anderen jungen Frauen müssen noch oft an ihre Zeit im "Friesenhof" denken. Viele haben Alpträume, einige befinden sich in psychologischer Behandlung.

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 09.06.2015 | 21:15 Uhr

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