Eine Gruppe von Menschen stehen vor einer Cessna und posieren für die Kamera. © Marina Heller

Inklusionsarbeit in 500 Metern Höhe über der Kieler Förde

Stand: 27.08.2022 06:00 Uhr

Sich seinen Ängsten stellen und etwas Außergewöhnliches erleben? Das wünscht sich der 36-jährige Yannik, der eine geistige Behinderung hat. Er wird mit einem Ausblick über die Kieler Förde belohnt.

von Marina Heller

Bereits zum zweiten Mal nimmt der AWO Wohn- und Betreuungsverbund Uckermark die lange Anreise nach Kiel in Kauf, um für wenige Stunden den Alltag hinter sich zu lassen. Nach knapp sechs Stunden Autofahrt erreichen sie das Ziel. Aus zwei Bussen steigen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit ihren Betreuerinnen und Betreuern am Kieler Flughafen aus. Dort werden sie herzlich von Pilotin Ute Hölscher und Pilot Stefan Kunstmann in Empfang genommen.

Einige von ihnen haben ihre ersten Flüge bereits vor einem Jahr absolviert. Bei ihnen überwiegt die Vorfreude. Viele der anderen Teilnehmenden sind sich noch etwas unsicher und werden erst einmal ihre Freunde vorschicken, um sich davon zu überzeugen, dass sie nichts zu befürchten haben.

Akzeptanz ist der erste Schritt Richtung Inklusion

Der 36-jährige Yannik ist zum ersten Mal dabei. Er freut sich immer wieder, wenn er sich neuen Herausforderungen stellen kann und ist dankbar für jede Gelegenheit, die sich ihm bietet, Dinge zu tun, die für andere Menschen selbstverständlich sind. Mit den seltsamen Blicken, die ihn täglich verfolgen, hat er sich inzwischen abgefunden.

Er kämpft seit frühester Kindheit mit den Vorurteilen seiner Mitmenschen gegenüber Personen mit geistiger Behinderung. Dabei wünscht er sich einfach nur eine Akzeptanz in der Gesellschaft. Umso kostbarer sind für ihn deshalb die Augenblicke, in denen er einfach im Moment leben kann. Für Yannik ist es das erste Mal, dass er einen Flughafen besucht und die Maschinen beim Starten und Landen beobachten kann. Am Anfang ist die Situation überwältigend für ihn, die vielen ungewohnten Geräusche und Abläufe verunsichern ihn.

Unsicherheiten vor dem Start werden überwunden

Die Pilotinnen und Piloten müssen zunächst die Gruppen richtig einteilen. In jedem Flieger können drei Passagiere mitfliegen. Diese dürfen insgesamt maximal 200 kg wiegen, um mit einer vollgetankten Maschine einen sicheren Start zu gewährleisten. Ute Hölscher konnte bereits im letzten Jahr Erfahrungen sammeln und weiß, wie sie den Flug für alle Teilnehmenden zu einem unvergesslichen Erlebnis machen kann.

Skeptisch beobachtet Yannik das Starten und Landen der Maschinen. "Ist das Fliegen wirklich ungefährlich?", fragt Yannik sichtlich nervös, als er den ersten Maschinen bei der Startvorbereitung zuschaut. Die Angst droht den 36-Jährigen dabei fast zu übermannen. "Ich bin mir wirklich nicht mehr sicher, ob ich noch in die Maschine einsteigen soll. Ich glaube, ich habe es mir anders überlegt", sagt er. Die Pilotinnen und Piloten nehmen seine Unsicherheiten ernst und nehmen sich vor dem Start die Zeit, den genauen Ablauf des Rundfluges zu erklären.

Ausblick über die Kieler Förde lässt die Angst in Vergessenheit geraten

Eine Luftaufnahme zeigt Kiel von Oben: Olympiahafen Schilksee. © Marina Heller
Der Flug über die Kieler Förde ist ein unvergessliches Erlebnis.

Kurze Zeit später hebt die Maschine ab und die Aufregung und die Angst sind schnell vergessen. 15 Minuten lang dreht die kleine Cessna ihre Runden über der Kieler Förde. Die Kieler Innenstadt darf nur während des Landeanfluges für kurze Zeit überflogen werden, um die Anwohnenden nicht mit den Motorgeräuschen zu belästigen. In diesem Moment bietet sich allen Beteiligten ein ganz besonderer Ausblick auf zwei im Hafen liegende Kreuzfahrtschiffe.

Nach der Landung strahlt Yannik über das ganze Gesicht. "Das war überhaupt nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt habe!", sagt er. Es war für ihn eine unglaubliche Erfahrung. "Es hat richtig Spaß gemacht! Ich will gleich noch eine Runde fliegen! Habt ihr mich da oben gesehen?" Viel wichtiger ist allerdings, dass er sich seiner Angst gestellt hat. Er wurde dafür mit einem Erlebnis belohnt, das er so schnell nicht vergessen wird. Eine Betreuerin erzählt von einer weiteren Teilnehmerin, die zum ersten Mal nach ihrem Flug gelächelt hat.

Nachdem alle Beteiligten die Chance hatten, eine Runde in einer der beiden Cessnas zu drehen, kommen die Pilotinnen und Piloten zurück und bieten jeweils einen letzten Flug an, bevor sich die Gruppe auf die Heimreise begeben muss. Yannik nutzt die Gelegenheit und dreht eine zweite Runde. Dieses Mal siegt die Vorfreude und die Skepsis vom Vormittag ist verflogen.

Anfragen sind seit der Pandemie stark angestiegen

"All diese Erfahrungen zeigen uns, wie wichtig die Zusammenarbeit in der Inklusion ist. Beide Seiten können auf diese Weise voneinander lernen und an den Herausforderungen wachsen. Die einzige Voraussetzung für die Arbeit ist es, keine Berührungsängste zu haben", so Hölscher.

"Wir möchten allen Menschen, die vom Fliegen träumen, den Wunsch vom Fliegen erfüllen", sagt Hölscher, die beim LSV-Kiel den Mitflugtag organisiert und zum 14. Mal zu Mitflügen in einmotorigen Flugzeugen einlädt. "Auch blinde Menschen oder Rollstuhlfahrer können teilnehmen." Ihr ist es wichtig, dass niemand zurückgelassen wird und alle Teilnehmenden die Möglichkeit haben, in die Luft abzuheben. Als Sonderpädagogin weiß sie, worauf es bei der Arbeit ankommt.

Bereits am 3. September findet der nächste Mitflugtag beim Luftsportverband Kiel statt. Das Interesse ist nach dem Abflachen der Corona-Pandemie groß. Aktuell haben sich bereits über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer angemeldet. Der Verein ist von der Resonanz überwältigt und fühlt sich damit bestätigt, mit dem Angebot einen wichtigen Beitrag zu leisten.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Moin! Schleswig-Holstein – Von Binnenland und Waterkant | 29.08.2022 | 19:40 Uhr

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