Grundschüler immer schlechter: Wurden Warnungen nicht gehört?
Ganz so schlimm wie beim "PISA-Schock" zu Beginn der 2000er-Jahre war es vielleicht nicht, als vor gut drei Wochen die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends vorgestellt wurden. Doch auch sie sorgen für große Ernüchterung - und Diskussionen. Bundesweit sind die Deutsch- und Mathe-Kompetenzen der Viertklässler seit 2011 zurückgegangen.
Die Überraschung über den Abwärtstrend hält sich bei Uwe Niekiel in Grenzen. Der Leiter der Boy-Lornsen-Grundschule in Brunsbüttel (Kreis Dithmarschen) hat die Entwicklung als Praktiker miterlebt: "Man sieht es seit zehn Jahren, dass die Leistungen in Deutsch und Mathematik entweder gleichbleiben oder etwas geringer werden, aber niemals sprunghaft nach oben gehen, wie wir uns das wünschen würden", sagt Niekiel.
Aus seiner Sicht liegt das nicht nur an der Pandemie und an der steigenden Zahl von Kindern mit Migrationshintergrund, sondern auch an zusätzlichen Aufgaben für die Lehrer: "Das heißt, der Normalfall ist, dass die Kinder um 8 Uhr kommen und um 13 Uhr gehen. Und in dieser Zeit sollen wir alle möglichen Aufgaben hineinpacken. Das geht einfach nicht. Es sei denn, man lässt etwas anderes weg oder macht etwas anderes weniger als vorher", so Niekiel, der auch Vorsitzender des Schulleitungsverbandes Schleswig-Holstein ist.
Zu wenig Unterstützung für die Schwachen?
Förderunterricht etwa ist aus Sicht von Bildungsexperten in den vergangenen Jahren zu kurz gekommen. "Das System hat in den letzten zehn Jahren in Schleswig-Holstein wie auch in den anderen Bundesländern vielleicht nicht so viele Anstrengungen unternommen, auch um gerade die Schwachen zu fördern, wie nötig gewesen wäre, um diesen Abschwung zu verhindern", sagt Professor Olaf Köller, geschäftsführender wissenschaftlicher Direktor des IPN-Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel.
Die Warnungen vor diesem "Abschwung" habe es vor zehn Jahren schon gegeben, sagt Olaf Köller. So habe der Bildungsexperte Professor Jürgen Baumert - damals auch als "PISA-Papst" bekannt - auf die möglichen Folgen von sinkenden Schülerzahlen und einer steigenden Zahl von Einwandererkindern - und den erhöhten Förderbedarf - hingewiesen. "Es war vorhergesagt und die Länder sind, auch Schleswig-Holstein, schon fast sehenden Auges in diese Misere geraten", sagt Professor Köller.
Konkret hätte man Förderprogramme konsequenter umsetzen müssen. "Wir haben ja sogar gute Ansätze in Schleswig-Holstein", findet Köller. Aber: "Das Problem ist oftmals, dass Förderlehrkräfte nicht zum Fördern eingesetzt werden, sondern um ausgefallenen Unterricht auszugleichen."
Prien sieht gesamte Gesellschaft in der Pflicht
Schleswig-Holstein liegt bei den Werten im Mittelfeld - und auch bei den Kompetenzverlusten sind andere Länder schlechter dran. Dennoch gibt es auch hier im Land den Negativtrend. Bildungsministerin Karin Prien (CDU) hat am Donnerstag im Bildungsausschuss zum Thema IQB-Bildungstrend berichten. Sie nennt die Ergebnisse "besorgniserregend" - und sieht neben den Veränderungen in der Zusammensetzung der Schülerschaft und den Effekten durch den Corona-Lockdown auch gesellschaftliche Veränderungen als Grund für das schlechte Abschneiden der Grundschüler.
So lasse in allen Familien die Bereitschaft nach, den Kindern vorzulesen. "Insofern ist das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Eltern und Kitas müssen mehr mit tun, die Grundschulen müssen sich verändern, die Lehrerausbildung muss sich verändern. Nur dann haben wir eine wirkliche Chance, uns gegen diesen Trend zu stemmen", so Prien.
Lehrernachwuchs fehlt
Sorgen bereitet den Experten auch der demografische Wandel - durch den weniger qualifiziertes Personal zur Verfügung steht. Olaf Köller vom IPN spricht von einer "Deprofessionalisierung" - seit Corona kommen immer mehr pensionierte Lehrkräfte, Studierende und Quereinsteiger zum Einsatz. Auch an der Schule von Uwe Niekiel sind neben Lehrern und Studierenden auch Quereinsteiger aktiv.
Immerhin sind an der Boy-Lornsen-Grundschule inzwischen wieder ausreichend Kolleginnen und Kollegen da, sodass auch Förderunterricht wieder möglich ist. Jahrelang war das nicht der Fall. "Wir mussten mit zwei, drei oder sogar vier fehlenden Planstellen leben und damit haben wir dann gerade das Nötigste auf die Reihe gekriegt", so Niekiel.
Für die Kinder, deren Ergebnisse jetzt veröffentlicht wurden, sind die Folgen aus Sicht von Experten schon absehbar. Von einer verlorenen Generation spricht Bildungsforscher Köller nicht, aber von einer Generation, "die es im Leben schwerer haben wird, als das vielleicht vor zehn Jahren der Fall war."