Junge Frau mit Smartphone senkt ihren Kopf in die Hände. © Fotolia.com Foto: kei907

Ein Hilferuf und kein Echo - Warten auf Psychotherapie

Stand: 21.03.2022 05:00 Uhr

Immer mehr Menschen sind psychisch krank. Ihre Suche nach professioneller Hilfe gleicht einem Marathon. Um einen Therapieplatz zu bekommen, brauchen sie vor allem eins: Ausdauer.

von Vera Vester

Wer im Park an ihm vorbeiläuft, käme nie auf die Idee, dass sein Innerstes oft weit weg ist von dem, was er nach außen zeigt. Jung, fröhlich, zufrieden - so wirkt Leo (Name von der Redaktion geändert). Jung, traurig, besorgt - so ist Leo. Er ist 18 und hat seit Jahren immer wieder depressive Episoden. F33 wäre die Einordnung bei der Internationalen Klassifikation von Krankheiten. Für die Gesundheitsindustrie eine Nummer, für ihn ein Zustand: F33 - rezidivierende depressive Störung. Grundlos traurig: Das war er schon als Kind immer wieder, dachte, das sei mehr oder weniger normal. Mit 15 wurden diese Gefühle stärker. Schlecht schlafen, ungern essen, kein Antrieb - all das kennt Leo.

Mehr Krankschreibungen wegen Depressionen

Menschen mit psychischen Erkrankungen gibt es immer mehr und durch die Pandemie ist die Zahl noch weiter gestiegen: Nach aktueller Analyse der DAK Krankenversicherung waren die Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen im Jahr 2021 auf einem neuen Höchststand: Auf 100 Versicherte kamen 276 Fehltage - das sind 41 Prozent mehr als noch zehn Jahre zuvor. Die Ausfälle wegen anderer Erkrankungen blieb hingegen fast konstant. Am häufigsten betroffen von Depressionen, Angst- und Anpassungsstörungen: Menschen in der Gesundheitsbranche. Selbst wenn sich nur ein Bruchteil der Erkrankten Hilfe sucht, zeigt das: Der Bedarf an Psychotherapien ist enorm gestiegen.

Klimawandel, Corona, Krieg

junger Mann von hinten auf Parkbank © NDR Foto: Vera Vester
Leo leidet an Depressionen. Bei mehreren Psychotherapeuten steht er auf der Warteliste.

Diesen Bedarf hat auch Leo irgendwann bei sich erkannt, "es war klar, dass ich da alleine und ohne professionelle Hilfe nicht rauskomme", meint er. Eineinhalb Jahre hat der Kieler sich verhaltenstherapeutisch behandeln lassen. Irgendwann habe der Therapeut aber seinen Praxissitz aufgegeben.

Leo war schon immer sehr sensibel, ihn beschäftigt nicht nur sein direktes Umfeld mehr als vielleicht andere, sondern auch gesellschaftliche Krisen, wie der Klimawandel, Corona oder jetzt der Krieg in der Ukraine. "Es ist nicht nur so, dass diese Sachen nicht schon so schlimm genug sind, es ist oft auch die Ignoranz Einzelner in unserer Gesellschaft, die mich traurig macht, da fühle ich mich irgendwie machtlos." Als er im vergangenen Jahr wieder eine schlechtere Phase hatte, hat er sich Hilfe in einer Tagesklinik gesucht - und hatte Glück. Nur zwei Wochen nach seinem Anruf wurde ein Platz frei. Das hieß: Acht Wochen lang Entspannungsübungen, Einzel- und Gruppensitzungen, Ergotherapie. All das hat Leo geholfen. Auch, dass sein Arbeitgeber Verständnis hat. Er macht ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen - darf seine Stundenzahl vorübergehend reduzieren. Zusätzlich braucht er aber weiterhin ambulant therapeutische Unterstützung.

Wartelisten als große Hürde

Eine Psychotherapeutin spricht mit einem Patienten. © picture alliance Foto: Mascha Brichta
18 bis 20 Wochen warten Menschen auf eine umfassende ambulante Psychotherapie, so die Psychotherapeutenkammer.

Die Suche nach einem Therapeuten oder einer Therapeutin startet meist in der Umgebung. Sowohl die Psychotherapeutenkammer als auch die Kassenärztliche Vereinigung bieten auf ihren Websites entsprechende Suchmasken. Hier sind Therapeuten und Therapeutinnen mit ihren Adressen, Behandlungsschwerpunkten, Therapiemethoden und Sprechzeiten aufgelistet. Dann beginnt der Telefon-Marathon, Terminvereinbarungen über Mail sind oft nicht möglich. Was für jeden gesunden Menschen wohl ein Klacks ist, bedeutet für viele psychisch erkrankte Menschen oft eine riesige Überwindung. Erst einmal zu erkennen, dass man krank ist, die Einsicht, dass man Hilfe braucht - das allein ist schon ein schwerer Schritt. Aber dann auch noch aktiv um Hilfe bitten und das immer und immer wieder: Wohl die größte Hürde für Menschen, die akut in einer Krisensituation stecken.

Neue Richtlinie sollte helfen

Vor einigen Jahren noch wurden Hilfesuchende schon direkt beim ersten Anlauf vertröstet: Da kann die Stimme auf dem Anrufbeantworter noch so freundlich sein, Wartezeit ist Wartezeit. Eine neue Richtlinie sollte seit April 2017 genau das verhindern: Psychotherapeuten oder Praxispersonal müssen zu festen Zeiten persönlich erreichbar sein - in mindestens 200 Minuten pro Woche. Außerdem sind sie verpflichtet, 100 Minuten Sprechstundenzeit pro Woche anzubieten. Nur selbst wenn durch letzteres ein Erstgespräch zustande kommt, heißt das noch lange nicht, dass die Patienten dann auch unmittelbar mit den ersten therapeutischen Sitzungen starten können.

Das merkt auch Leo jetzt: Von der Tagesklinik hatte er eine Auflistung mit Therapeuten bekommen, an die er sich wenden kann. Einige habe er telefonisch gar nicht erst erreicht, andere hätten ihm gleich gesagt, dass die Wartelisten zu lang seien. Auf drei Wartelisten steht er dennoch drauf. "Aber was das genau heißen soll, weiß ich auch nicht, wie lange muss ich denn warten und wie viele Leute sind vor mir?" Und wieder ist er nur eine Nummer.

Tom Lemke-Weinhold kennt dieses Problem: Er ist leitender psychologischer Psychotherapeut der Tagesklinik der Brücke SH in Preetz (Kreis Plön). Auch er weiß von Patienten, die - halbwegs gestärkt aus der Klinik kommend - auf der Suche nach einem ambulanten Therapieplatz verzweifeln: "Wenn sie immer wieder auf Ablehnung stoßen, hat das auch Auswirkungen auf Selbstvertrauen und Selbstwert, sie fühlen sich machtlos und laufen so wieder Gefahr in die nächste Depression zu rutschen", sagt er.

Belastend auch für Therapeuten und Therapeutinnen

Die Nachfrage ist einfach zu groß. Wie groß, zeigt eine Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung unter ihren Mitgliedern nach dem ersten Pandemiejahr. Knapp 4.700 Befragte haben geantwortet, die meisten von ihnen sind als psychologische Psychotherapeuten tätig und rechnen ihre Stunden über die Krankenkassen ab. Während sie im Januar 2020 pro Woche im Schnitt 4,9 Anfragen von Patienten hatten, waren es 2021 6,9 Anfragen, also etwa 40 Prozent mehr. Die Therapeuten, bei denen wöchentlich mit mehr als zehn ohnehin schon viele Anfragen reinkamen, hat sich die Zahl der Anrufer sogar verdoppelt. Auswirkungen hat das nicht nur auf die Patienten: Mehr als die Hälfte der Psychotherapeuten empfindet es als belastend, dass so viele Menschen sich bei ihnen melden, weitere 20 Prozent bezeichnen die zahlreichen Anfragen sogar als "sehr belastend".

Therapeutenkammer fordert Politik und Krankenkassen zum Handeln auf

Dr. Veltrup, Präsident der Psychotherapeutenkammer Schleswig-Holstein © Sinje Hasheider Foto: Sinje Hasheider
Dr. Clemens Veltrup, Präsident der Psychotherapeutenkammer, sieht Krankenkassen, Politik und Kassenärztliche Vereinigung mit in der Verantwortung.

"Gerade in den vergangenen beiden Jahren gab es Krisensituationen, die bei vielen die psychische Stabilität beeinträchtigt haben", sagt Dr. Clemens Veltrup, Präsident der Psychotherapeutenkammer in Schleswig-Holstein. Außerdem seien auch immer mehr Menschen bereit, sich behandeln zu lassen - eigentlich ein gutes Zeichen auf dem Weg zur Entstigmatisierung. Es gebe zwar viele qualifizierte Therapeutinnen und Therapeuten, aber die könnten die große Nachfrage einfach nicht angemessen bedienen. Die Wartezeit bis zum regulären Beginn einer umfassenden ambulanten Psychotherapie liegt nach seiner Aussage derzeit bei 18-20 Wochen. Er sieht Krankenkassen, Politik und die Kassenärztliche Vereinigung mit in der Verantwortung beim Angebot nachzubessern. Veltrup glaubt, dass es am Ende auch kostengünstiger wäre, Geld in die qualifizierte Versorgung zu stecken, anstatt vielen Menschen Krankengeld zu zahlen, weil sie aufgrund psychischer Störungen lange arbeitsunfähig sind.

744 Kassensitze auf 2,9 Millionen Einwohner

Den Bedarf an Therapieplätzen ermittelt der Gemeinsame Bundesausschuss, bestehend unter anderem aus dem Bund der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Demnach sind die aktuell 744 Kassensitze in Schleswig-Holstein rechnerisch ausreichend. Heißt: Diese Psychotherapeuten dürfen ihre Leistungen mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen. Doch selbst bei der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein berichteten die Mitglieder von einer sehr hohen Auslastung, meint Sprecher Delf Kröger. Die Zahl der Kassensitze habe durch die letzte Reform der Bedarfsplanung zwar schon zugenommen - 2019 waren es 55 weniger. Dennoch müssten weitere Impulse aus der Politik kommen. Denn erst der Gesetzgeber beauftragt den Gemeinsamen Bundesausschuss damit, die Bedarfsplanung anzupassen.

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Hoffnung macht da der Koalitionsvertrag der Ampelparteien. Darin heißt es: "Wir reformieren die psychotherapeutische Bedarfsplanung, um Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz, insbesondere für Kinder- und Jugendliche, aber auch in ländlichen und strukturschwachen Gebieten deutlich zu reduzieren."

Erstgespräch sofort, Therapieplatz später

Bei einer Kinder- und Jugendpsychiaterin hat Leo direkt einen Termin bekommen - Glück oder Zufall könnte man das nennen: Laut der Studie der Psychotherapeutenvereinigung bekommt nur etwa ein Viertel der Menschen, die angerufen haben, dann auch einen Termin für ein Erstgespräch. Etwa die Hälfte davon wartet mehr als vier Wochen auf dieses Gespräch. Leo hat nach seinem ersten Termin das Angebot bekommen, im August eine Therapie starten zu können, also fünf Monate später. Und genau dieses Problem kennen viele. Zwar sind die Therapeutinnen und Therapeuten jetzt mehr in der Pflicht feste Sprechstunden anzubieten, nur heißt das noch lange nicht, dass die Therapie dann auch direkt beginnen kann. Die möglicherweise mehreren Erstgespräche haben die Patienten also in der akuten Krise erstmal gar nicht weiter gebracht - und die Therapeuten konnten in diesen Stunden nicht mit bereits vorhandenen festen Patientinnen und Patienten weiterarbeiten.

Ein Ausweg für Betroffene: Therapeuten ohne Kassensitz anfragen. Die müssen allerdings oft aus eigener Tasche bezahlt werden. Eine 50-minütige Sitzung kostet um die 100 Euro. Leisten kann sich das auf Dauer längst nicht jeder.

Auch Leo nicht. Er wartet jetzt erstmal. Nach seinem Freiwilligen Sozialen Jahr will er allerdings umziehen, nach Berlin zum studieren. Dort geht die Suche dann wieder von vorne los. Anrufe, Wartelisten. Und am Ende ist er auch dort erstmal wieder nur eine Nummer.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Moin! Schleswig-Holstein – Von Binnenland und Waterkant | 21.03.2022 | 19:45 Uhr

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