Corona im Winter: Virologen wollen Schutzmaßnahmen zurückfahren
Sollte eine Corona-Infektion weiterhin als besondere Erkrankung gesehen werden? Sind Regeln wie die Maskenpflicht in Bus und Bahn noch zeitgemäß? Unter anderem darüber haben am Donnerstag zahlreiche Experten im Kieler Landeshaus gesprochen.
Die Experten, die am Donnerstag vor dem Sozialausschuss des schleswig-holsteinischen Landtags geredet haben, sind dafür, Corona-Schutzmaßnahmen weiter zurückzufahren. So gibt es laut dem Kieler Virologen Helmut Fickenscher im Land kaum noch Menschen, die nicht gegen Corona geimpft sind oder noch keine Infektion durchgemacht haben. Somit geht er davon aus, dass die meisten Bürger in SH bereits einen gewissen Schutz gegen das Virus aufgebaut haben. Sein Rat: Die wenigen Corona-Maßnahmen, die es noch gibt, sollten weiter reduziert werden. Der Virologe sieht zum Beispiel keinen Grund mehr für eine Maskenpflicht im ÖPNV. Auch in Alten- und Pflegeheimen sollten die Bewohner keine Maske mehr tragen müssen, wenn sie aus ihren Zimmern kommen. Das sei mit der Lebenssituation der Menschen nicht vereinbar, so Fickenscher.
Streeck: Isolation nicht immer sinnvoll
Sein Virologenkollege Hendrik Streeck aus Bonn sagte, er halte es nicht mehr für sinnvoll, dass sich Menschen in Isolation begeben müssen, wenn sie positiv auf Corona getestet wurden. Wer keine Symptome hat, könne auch arbeiten gehen, so Streeck - unter Umständen mit einer FFP2-Maske.
Rupp: Medizinische Unterversorgung in anderen Bereichen
"Die Fokussierung auf Sars gefährdet mehr als sie nützt", sagte der Direktor der Klinik für Infektiologie am Universitätsklinikum in Lübeck, Professor Jan Rupp. Das Hauptproblem sei nicht mehr Covid, sondern medizinische Unterversorgung in anderen Bereichen. Covid sei jetzt eine Infektion neben anderen. Rupp sprach sich dafür aus, anstelle einer Isolationspflicht verantwortungsvolle Regeln und Symptomatiken in den Vordergrund zu rücken.
Jauch-Chara: Rückkehr zur Normalität nötig
Auch die Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum in Kiel, Professor Kamila Jauch-Chara, forderte eine Rückkehr zur Normalität für Erwachsene, Kinder und Jugendliche. "Wir müssen hin zur Eigenverantwortung", sagte sie. Jauch-Chara verwies auf eine starke Zunahme stressbedingter Erkrankungen. In der Pandemie habe sich die Zahl der Suizidversuche von Kindern und Jugendlichen verdreifacht, während der Lockdown-Zeit und danach.
Rabe: Brauchen Normalbetrieb
"Wir brauchen wieder einen Normalbetrieb, um wieder arbeitsfähig zu sein", sagte der Ärztliche Direktor der Lungenklinik Großhansdorf, Professor Klaus Rabe. Dies sei ein ökonomisches und strukturelles Problem. Es müsse auch mental eingeordnet werden, dass Sars-CoV-2 eine Viruserkrankung von mehreren sei. Die Krankenhäuser seien extrem unter Druck, Notaufnahmen seien extrem voll.
CDU bleibt vorsichtig, FDP und SSW fordern Umdenken
Die Landesregierung berate aktuell, wie eine landesseitige Lösung aussehen könnte, erklärte die Ministerin für Justiz und Gesundheit, Kerstin von der Decken (CDU). An der Maskenpflicht in Bus und Bahn wolle sie festhalten. Ex-Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP) hält eine Fokussierung auf Sars zunehmend für kontraproduktiv und stimmt damit der Meinung der Expertinnen und Experten zu. "Mit dieser wissenschaftlichen Einschätzung kann die Landesregierung nun guten Gewissens die Isolationspflicht abschaffen und hier auch bundesweit vorangehen", sagte Garg. Trotz hoher Impfquote und milden Verläufen würden die Menschen durch Test-, Masken- und Isolationspflichten weiterhin im psychischen Alarmzustand gehalten, kritisierte zudem Christian Dirschauer vom SSW. "Es geht auch ohne Hysterie und übertriebene Restriktionen."
In der ersten Anhörungsrunde am Donnerstag ging es zunächst um medizinische Aspekte der aktuellen pandemischen Lage. Die rechtlichen Aspekte von Corona-Maßnahmen, deren Auswirkungen auf die Gesellschaft und auf Schulen behandeln Abgeordnete und Fachleute im dritten Teil der Anhörung.