IS-Anhängerin aus Lohne wegen Mordes vor Gericht
Sie soll zugesehen haben, als ein fünfjähriges Mädchen verdurstete: Am Dienstag begann der Prozess gegen eine junge Deutsche, die sich dem "Islamischen Staat" im Irak angeschlossen haben soll. Die Bundesanwaltschaft wirft der 27-Jährigen aus dem niedersächsischen Lohne unter anderem Mord und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vor.
Das fünfjährige Mädchen bekam kaum etwas zu essen, erzählt seine Mutter Nora B. Das Kind durfte nicht vor die Tür und musste mit dem Hausherren beten, obwohl es keine Muslima war. Wenn die Kleine die Bewegungen nicht richtig ausführte, soll der Hausherr sie mit der flachen Hand auf den Hinterkopf geschlagen haben. Sie durfte noch nicht einmal ihren jesidischen Namen Reda Saido behalten, ein Name einer "Ungläubigen", sagte der Hausherr und nannte sie stattdessen Rania. Die Mutter Nora B. sagt, dass sie während ihrer Gefangenschaft als seine Sklavin immer wieder verprügelt wurde. Die brutale Behandlung nahm erst ein Ende, als Reda Saido starb.
Die Mutter musste zusehen, wie ihr Mädchen starb
Es war ein Tag im September 2015. Die Jesidin Nora B. und ihre fünfjährige Tochter Reda Saido waren erst einige Wochen im Haus des IS-Kämpfers Abu Maawi und seiner deutschen Frau Jennifer W. im irakischen Falludscha, als das Kind sich einnässte. Zur Strafe fesselte er das Mädchen in der Mittagshitze im Hof. "Mama", habe es immer wieder gerufen, erzählt Nora B., aber sie habe ihrem Kind nicht helfen dürfen. Nora B. musste mit ansehen, wie ihre Tochter in der Hitze langsam verdurstete. Jennifer W. aus Lohne (Landkreis Vechta), die deutsche Herrin, habe zwar irgendwann ein Glas Wasser nach draußen gebracht, aber da sei es schon zu spät gewesen.
Jennifer W. erzählt von ihrer Tat
Nora B. hat als Zeugin des Mordes an ihrer Tochter der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe von diesem Tag und ihrer Zeit als Sklavin der Terrormiliz Islamischer Staat berichtet. Aber nicht nur ihre Beobachtungen kennen die Ermittler, auch von Jennifer W. wissen sie um den Tod der kleinen Reda Saido. Sie erzählte im Sommer 2018 freimütig einem Mitarbeiter der Polizei davon, den sie für einen Glaubensbruder hielt. Wenig später wurde sie festgenommen.
Staatsanwaltschaft wirft Jennifer W. Mord vor
Jetzt muss sich Jennifer W., die inzwischen 27 Jahre alt ist, vor dem Oberlandesgericht München verantworten. Sie ist wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, Mordes als Kriegsverbrechen und Verletzung des Kriegswaffenkontrollgesetzes angeklagt. Die Bundesanwaltschaft wirft Jennifer W. vor, durch Unterlassen den Tod des Mädchens herbeigeführt zu haben. Sie habe erkannt, dass das Kind verdursten werde, sei aber nicht eingeschritten, obwohl es ihr möglich und zumutbar gewesen wäre.
Nora B. wird von Amal Clooney vertreten
Auch Nora B. wird in München vor Gericht aussagen. Es ist das erste Mal, dass ein Opfer des IS in Deutschland vor Gericht als Nebenklägerin und Zeugin auftreten wird. Sie wird dabei von der internationalen Menschenrechtsanwältin Amal Clooney und der deutschen Strafverteidigerin Nathalie von Wistinghausen vertreten. Die Anwältinnen sagten in einem Statement, sie hofften, dass dies "nur das erste von vielen Strafverfahren ist, die den IS auf der Grundlage internationalen Rechts endlich zur Verantwortung ziehen".
Die Geschichte der Familie von Nora B.
Während Jennifer W. freiwillig nach Syrien zum IS reiste, wurde Nora B. mit vorgehaltener Pistole dorthin gezwungen. Die irakische Jesidin war mit ihrer Familie ins Sindschar-Gebirge geflohen, doch der IS entdeckte sie. Die Familie wurde auseinandergerissen, Nora B. von ihren beiden Söhnen getrennt, nur das kleine Mädchen ließ man ihr. Wo die beiden Jungen leben, ob sie überhaupt noch leben, weiß sie nicht. Jesidische Frauen wie Nora B. und ihre Tochter waren die Kriegsbeute der IS-Kämpfer oder Arbeitssklavinnen für deren Frauen.
Die Geschichte von Jennifer W.
An Jennifer W. erinnern sich ihre ehemaligen Lehrerinnen als ein ganz normales Mädchen. Erst ging sie ins Gymnasium, dann in die Realschule, nach der achten Klasse war Schluss. Eine Ausbildung machte sie nicht. Sie wandte sich immer mehr dem Islam zu. Mit 17 bestand sie darauf, ein Kopftuch zu tragen. Erst wollte sie für die kurdische PKK kämpfen, dann begann sie sich voll zu verschleiern, sodass sie nur noch durch einen Sehschlitz blicken konnte. 2013 konvertierte sie zum Islam. Einmal alarmierte ein syrischer Flüchtling seine Betreuer, als er Jennifer W. auf der Straße sah: Sie trug eine Tasche mit der arabischen Aufschrift "Märtyrerin". Im August 2014 reiste Jennifer W. über die Türkei und Syrien zum IS in den Irak.
Jennifer W. arbeitet für die Sittenpolizei des IS
Sie lebte einige Monate in Rakka, dann mit Abu Maawi in Falludscha, bis sie 2016 schwanger nach Lohne zurückkehrte. Seitdem stand sie unter Beobachtung der Sicherheitsbehörden. Doch erst als sie im Juni 2018 erneut zum IS ausreisen wollte, griff man zu. Ein Vertrauensmann der Polizei bot ihr an, sie und ihre kleine Tochter nach Syrien zu bringen, im Auto erzählte sie ihm ausführlich von ihren zwei Jahren beim IS: Sie habe für die sogenannte Hisba gearbeitet, eine Art Sittenpolizei. Sie war offenbar sehr stolz auf ihren Job, bei dem sie 50 bis 100 Dollar pro Monat erhielt. Es sei der beste Job gewesen, erzählte sie.
Anwalt spricht von Übertreibungen
Die Hisba war für die Einhaltung des Tabak- und Alkoholverbots sowie von Kleidervorschriften zuständig und konnte bei Verstößen Strafen und körperliche Züchtigungen, etwa Auspeitschen, verhängen. Jennifer W. sagte, sie habe selbst keine Bestrafungen vorgenommen, aber das sei auch nicht notwendig gewesen. Wenn sie in weißem Gewand und bewaffnet mit Gewehr und Pistole durch die Parks marschiert sei, hätten die Frauen dafür gesorgt, richtig bekleidet zu sein. Ihr Frankfurter Anwalt Ali Aydin sagt, das seien alles Übertreibungen. "Es gibt keine belastbaren Anhaltspunkte, dass meine Mandantin bei der Hisba gewesen ist." Zum Vorwurf, dass sie fünfjährige Mädchen habe verdursten lassen, sagt er nichts.
Jennifer W. kehrt nach Lohne zurück
Auch Nora B. hatte Angst vor Jennifer W., als sie in ihrem Haus lebte. Diese sei an den Bestrafungen durch den Hausherren beteiligt gewesen. Nachdem die kleine Reda tot war, habe ihre Herrin ihr eine Pistole an die Stirn gehalten und ihr gedroht, sie zu erschießen, wenn sie sich nicht anständig benehme. Und sie erzählt, Jennifer W. habe geweint - aber nicht um das Kind. Sondern weil sie fürchtete, Probleme zu bekommen. Denn selbst in dem islamischen Unrechtsstaat gab es Regeln für den Umgang mit Sklavinnen. W.s Mann Abu Maawi wurde von einem IS-Gericht bestraft, konnte dann aber fliehen. Und Jennifer W. beschloss daraufhin, nach Deutschland zurückzukehren. In Lohne bekam sie ihre Tochter, fiel aber in der Stadt offenbar nicht groß auf. Seit Juli 2018 sitzt Jennifer W. in Untersuchungshaft. Ihre Mutter kümmert sich seitdem um die fast dreijährige Tochter.
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