Schwere Vorwürfe gegen Erzieher: Missbrauch statt Geborgenheit?

Stand: 05.06.2023 09:29 Uhr

In einem Kinderdorf im Landkreis Lüneburg soll ein Erzieher Jungen über Jahrzehnte sexuell missbraucht haben. Ab Ende Juni muss er sich vor Gericht verantworten.

von Carlo Eggeling und Johannes Koch

Ein Kinderdorf, idyllisch gelegen, weit draußen im Landkreis Lüneburg. Mächtige Eichen werfen ihre Schatten, daneben Pferdekoppeln, Gemüsebeete und schöne Backsteinhäuser. Wer als Kind hierherkommt, kann zu Hause nicht bleiben, zum Beispiel weil die Eltern mit der Erziehung überfordert sind oder Schlimmeres. Ein Ort, der auffangen soll, Sicherheit und Halt geben. Doch er wurde zum mutmaßlichen Tatort. In einem Zeitraum von mehr als 20 Jahren soll sich im Kinderdorf ein Erzieher an Jungen vergangen haben. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg wirft Rainer L. teils schweren sexuellen Missbrauch in 116 Fällen vor, davon zwei als Versuch.

Heimleitung: Junge soll sich Mitarbeiterin offenbart haben

Ein Kinderdorf im Landkreis Lüneburg. © NDR Foto: Johannes Koch
Der Geschäftsführer des Kinderdorfs, Andreas Olszewski, sprach mit dem NDR in Niedersachsen über die mutmaßlichen Missbrauchsfälle in seiner Einrichtung.

Die sechs mutmaßlich betroffenen Jungen sollen laut Staatsanwaltschaft Lüneburg im Alter von 7 bis 13 Jahren gewesen sein. Einer von ihnen habe sich im Sommer 2022 einer Mitarbeiterin offenbart, sagte der Geschäftsführer des Kinderdorfs Andreas Olszewski. Man habe Rainer L. mit den Vorwürfen konfrontiert, der mutmaßliche Täter habe sich daraufhin selbst angezeigt, so Olszewski.

Rainer L. galt als beispielhafter Pädagoge

Rainer L. galt vor Ort als beispielhafter Pädagoge, sagte der Geschäftsführer im Interview mit dem NDR in Niedersachsen: "Er war verantwortlich für eine der Lebensgemeinschaften über viele Jahre und hat sich ausgezeichnet durch eine sehr einfühlsame Persönlichkeit, wo durchaus Kollegen auch sagen: 'Von ihm konnte man durchaus auch etwas lernen, im Umgang mit den Kindern.'" Eine Bewertung, die das Kinderdorf heute kritisch hinterfragen muss. Denn es ist nicht das erste Mal, dass gegen Rainer L. aufgrund von Missbrauchsvorwürfen ermittelt wird. Das zeigen Recherchen des NDR Investigativteams Niedersachsen. Denn bereits 2001 stand der Erzieher im Verdacht, einen Jungen sexuell missbraucht zu haben. Rainer L. war schon damals im Kinderdorf als sogenannter "Hausvater" tätig, lebte in einer Gemeinschaft mit sechs Kindern zusammen. Ein damals Zwölfjähriger zeigte den Erzieher im Herbst 2001 bei der Polizei an. Der Vorwurf: sexueller Missbrauch.

Mutmaßliches Opfer erstattet Anzeige  

Auch damals ermittelt die Staatsanwaltschaft Lüneburg. Offenbar ohne Konsequenzen, denn laut Geschäftsführer des Kinderdorfs, Andreas Olszewski, wird das Verfahren eingestellt. Das bestätigt auch Yvonne Rybka. Ihr Stiefsohn hatte den Erzieher 2001 angezeigt. Die 55-Jährige erzählt, man habe den Jungen Anfang der 90er-Jahre in die Einrichtung gegeben, weil der Vater mit der familiären Situation überfordert gewesen sei. Das Kinderdorf sollte eine Unterstützung sein - für die Familie und vor allem für das Kind. Dort habe ihr Stiefsohn mit Rainer L. in einer Hausgemeinschaft gelebt, am Wochenende sei er regelmäßig zu Besuch nach Hause gekommen. Rybka erinnert sich an den Tag, an dem ihr der Stiefsohn vom mutmaßlichen Missbrauch erzählte: "Wir haben ihn an einem Freitag abgeholt, er sagte: 'Mama, ich muss dir dringend was erzählen. Ich wurde von einem Erzieher angefasst.'" Am nächsten Tag habe die Familie Anzeige erstattet. Die Polizei vernimmt den Jungen im Herbst 2001.

Staatsanwaltschaft Lüneburg lässt Fragen unbeantwortet

Teile der Strafanzeige liegen dem NDR vor. Der Junge beschreibt darin mutmaßliche intime sexuelle Berührungen und seine jahrelange Angst, sich zu offenbaren. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg lässt mehrere NDR Anfragen zu den Ermittlungen 2001 unbeantwortet, verweist auf Opfer- und Persönlichkeitsschutz. Ob und warum sie das Ermittlungsverfahren eingestellt hat, wird nicht beantwortet. Es bleibt bei Vorwürfen. Rainer L. kann 2001 weiterarbeiten, bestätigt der Geschäftsführer des Kinderdorfs, Andreas Olszewski: "Aufgrund dieses Gesamtbildes und der Rechtslage natürlich, die schon auch bestand, haben wir dann am Ende entschieden, dass wir ihn weiterbeschäftigen und erneut das Vertrauen ausgesprochen."

Unschuldsvermutung gilt trotz Selbstanzeige

Rainer L. lässt Fragen des NDR unbeantwortet. Auch sein Verteidiger lehnt eine Stellungnahme zum jetzigen Zeitpunkt mit Verweis auf das laufende Verfahren ab. Bis zu einer möglichen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung, trotz der Selbstanzeige durch Rainer L. Der Geschäftsführer des Kinderdorfs, Andreas Olszewski, empfindet vor allem Wut und Zorn. Es sei furchtbar, was die Opfer mutmaßlich erleiden mussten: "Wir haben alle angeschrieben, die betroffen sein könnten, und auf Unterstützungsangebote von Polizei und Opferhilfe hingewiesen. Mit Polizei und Staatsanwaltschaft arbeiten wir zusammen und haben alles herausgegeben, was wir an Material hatten."

Kinderdorf will Standards überprüfen

Aber das Kinderdorf müsse auch reflektieren, warum es zu den mutmaßlichen Taten gekommen ist: "Der Satz, 'das kann nicht sein', der muss uns eigentlich alarmieren. Und er muss dazu führen, dass wir noch genauer hingucken." Das Kinderdorf werde nun sämtliche Standards überprüfen, habe schon einiges verändert. Mitarbeiter würden intern geschult, es gebe mehr Kontrollen. Das Leitbild, zu finden im Internet, wurde im Herbst 2022 überarbeitet. Darin steht seither auch: "Wir haben die Verantwortung übernommen, die Sicherheit unserer Bewohner zu gewährleisten. Der Schutz vor seelischer, körperlicher und sexualisierter Gewalt hat in allen Einrichtungen und bei allen von uns durchgeführten Unterstützungs- und Hilfeleistungen oberste Priorität." Dem 63-Jährigen Rainer L. soll nun Ende Juni vor dem Landgericht Lüneburg der Prozess gemacht werden.

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