Tatort Wohnzimmer: Corona und häusliche Gewalt

Vier Frauen und ihre Kinder hat Heide Kruse seit Beginn der Kontaktbeschränkungen im März im Frauenhaus Wolfsburg aufgenommen. Sie sind geflohen vor Beschimpfungen, Misshandlungen und Schlägen durch den Partner oder Ehemann. "Es gab in diesen Beziehungen schon vorher Stress und Gewalt, aber da war es möglich, sich aus dem Weg zu gehen", sagte Heide Kruse, Mitarbeiterin im Frauenhaus Wolfsburg. "Jetzt in Zeiten von Corona ist das nicht möglich, weil die Kinder zu Hause sind, Homeoffice oder Kurzarbeit stattfinden. Und dann sind die Situationen in diesen Fällen eher eskaliert." Die eigenen vier Wände, die derzeit den sichersten Schutz vor dem Virus bieten, sind für von Gewalt betroffene Frauen und Kinder zugleich ein gefährlicher Ort. Und dennoch: In Wolfsburg wie auch in vielen anderen Frauenhäusern in Niedersachsen sind die Anfragen für ein Schutzzimmer nicht angestiegen. In manch einer Einrichtung wie im Frauenhaus Peine sogar zurückgegangen. Seit Beginn der Kontaktsperre sei es dort verdächtig ruhig gewesen, sagte eine Mitarbeiterin.
Kontaktsperren verstärken Kontrolle des Täters
Auch in den Frauenhäusern in Hannover sind die Aufnahmen nahezu gleichbleibend. Die Gründe für den ausgebliebenen Anstieg sind vielfältig. Einer ist die Nähe in der Wohnung, die es zulässt, dass die Täter Frauen und Kinder noch stärker überwachen. "Es wird sich keine Frau im Schlafzimmer einschließen, wenn nebenan der Mann im Wohnzimmer sitzt und sie Angst haben muss, dass er mithört, wenn sie sich nach Möglichkeiten einer Frauenhausaufnahme erkundigt", sagte Dorit Rexhausen, Mitarbeiterin im Frauen- und Kinderschutzhaus Hannover. Ein weiterer Grund sei die Krise selbst: "Wir müssen schon auch davon ausgehen, dass eine Situation, wo es so etwas wie einen Feind von außen gibt, die Familie eher zusammenschweißt. Frauen sagen jetzt vielleicht eher, wir halten noch durch", sagte Silke Dietrich vom Frauenhaus24 in Hannover - eine Sofortaufnahmestelle, die täglich 24 Stunden besetzt ist, kostenfrei zu erreichen unter: 0800 77 080 77.
Weniger Strafanzeigen, hohes Dunkelfeld
Bei der Polizei sind von Anfang März bis Ende Mai 2020 deutlich weniger Straftaten im Bereich häusliche Gewalt angezeigt worden. Das Landeskriminalamt (LKA) meldet auf Anfrage des NDR einen Rückgang um 16 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum 2019. Diese Zahl könne sich noch verändern, da die Polizei in einigen Fällen noch ermittele, aber ein Trend sei erkennbar, so das LKA. Das müsse aber nicht heißen, dass die Gewalt einfach aufhöre, betonte Frank Hellwig von der Polizeidirektion Braunschweig. Er leitet dort das Präventionsteam zur häuslichen Gewalt. "Auch im ganz normalen Alltag vor Corona hatten wir eine sehr hohe Dunkelziffer. Das heißt, Straftaten, die passieren, die bei der Polizei nicht angezeigt werden, wo sich Betroffenen zwar Hilfe bei Beratungsstellen holen, aber trotzdem eine Anzeige bei der Polizei ablehnen, aus Angst vor Repressalien", so Hellwig.
Aufmerksame Nachbarn können Betroffenen helfen
Weil Beratungsstellen, Frauenhäuser und die Polizei auch weiterhin von einer hohen Dunkelziffer ausgehen, sei das nachbarschaftliche Umfeld gerade in Corona-Zeiten sehr wichtig. "Die Nachbarn müssen achtgeben, sie müssen auf Geräusche achten, sie müssen schauen: Schreit dort ein Kind, eine Frau, gibt es Hilferufe", sagte Hellwig. Das sei in dieser Zeit Zivilcourage. Die Polizei richtet auch einen klaren Appell an die Bevölkerung: "Wenn ich etwas merke, auch wenn ich mich nicht traue, die Polizei zu rufen, dann gehe ich vielleicht wenigstens an die Wohnung, klingele und frage nach banalen Dingen - wie einer Packung Milch, um vielleicht einen Einblick zu bekommen." So könne man herausfinden, ob Hilfe angebracht ist. Jetzt sei die Gesellschaft noch viel mehr gefragt als früher, sagte der Polizist. Betroffene Frauen und Kinder, aber auch Nachbarn können sich bei der Polizei melden oder beim kostenfreien Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen", erreichbar unter der Nummer 08000 116 016.
Lockerungen schaffen wieder mehr Möglichkeiten
Jede vierte Frau in Deutschland ist statistisch gesehen von Gewalt betroffen. Ob die Auswirkungen des Coronavirus die Zahl der Betroffenen aber tatsächlich verändern, wird sich wohl erst in Wochen, vielleicht in Monaten zeigen. Seit Beginn der Lockerungen vor etwas mehr als einer Woche, verzeichnen jedenfalls einige Beratungsstellen in Niedersachsen einen Anstieg an Frauen, die Hilfe suchen, zum Beispiel in Osnabrück. "Momentan steht das Telefon kaum still. Wir haben viele Telefonberatungen mit Langzeitklientinnen, aber auch mit neuen Fällen", sagte Olga Barbje von der Frauenberatungsstelle. "Seit der Lockerungen kommen ganz viele Beratungsanfragen zum Beispiel zu Trennung und Scheidung." Auch in Osnabrück erzählen Frauen, dass die oft bereits vorhandene häusliche Gewalt durch Stressfaktoren wie das Leben auf engem Raum, den fehlenden Austausch mit anderen oder finanzielle Probleme verstärkt wurde. "Die Frauen, die sich melden, fragen: Was muss ich tun, wenn nochmals etwas vorfällt? Oder es melden sich Frauen, die schon beschlossen haben, dass sich etwas ändern muss und fragen: Kann ich das auch nachträglich noch anzeigen?", sagte die Beraterin. Die Antwort darauf laute "ja".
Beratungsspaziergänge als Akutmaßnahme
Viele Beratungsstellen haben während der Kontaktsperren telefonisch aus dem Homeoffice beraten. Durch die Lockerungen steigt aber auch die Nachfrage nach persönlichen Treffen. In Osnabrück hat man dafür bereits früh einen besonderen Weg gefunden: Beratungsspaziergänge. Betroffene und Beraterinnen treffen sich im Park oder auf dem Weg in den Supermarkt: "Das ist eine Maßnahme zur Stabilisierung für Akutfälle. Mit zwei Metern Abstand, um bei einem Spaziergang einige Dinge zu besprechen", sagte Barbje. Das persönliche Gespräch sei für die Betroffenen sehr wichtig, auch um aus der Angst herauszukommen.
Distanz erschwert Arbeit der Berater
Auch die Frauenhäuser haben trotz Hygiene- und Abstandsvorschriften Wege gefunden, um persönliche Beratungen zu ermöglichen. Aber die Distanz macht die Arbeit schwieriger: "Früher haben wir uns mit den Frauen an den Tisch gesetzt. Sie erzählten ihre Geschichte und da sind dann natürlich ganz häufig auch Tränen geflossen", sagte Heide Kruse vom Frauenhaus in Wolfsburg. "Auch heute fließen Tränen, normalerweise nimmt man dann auch mal eine Frau in den Arm und tröstet sie. Jetzt kann ich nur die Taschentücher hinschieben." Es ist eine Herausforderung, Nähe aufzubauen auf Distanz. Nichtsdestotrotz sind die Frauenhäuser im Land vorbereitet, sollten die Anfragen steigen.
Lockerungen: Einige Frauenhäuser erwarten Anstieg
An vielen Orten in Niedersachsen wurden zusätzliche Schutzplätze angemietet, finanziert durch die Landkreise und kreisfreien Städte. So auch in Wolfsburg. Kruse vom dortigen Frauenhaus erwartet einen Anstieg der Anfragen: "Ich denke, wenn dieser Lockdown zu Ende ist und alles wieder halbwegs normal ist, dann wird es einen Run auf die Frauenhäuser geben." Diese Einschätzung teilen auch andere Einrichtungen. Einige Schutzhäuser, wie die in Hannover, wagen noch keine Bewertung, aber auch sie sind gewappnet. Alle Frauenhäuser und Beratungsstellen in Niedersachsen sind telefonisch erreichbar, zu finden auf der Webseite des niedersächsischen Sozialministeriums. "Jede Frau hat ein Recht auf ein gewaltfreies Leben und das ist ganz wichtig. Und es ist ein hohes Gut, auch in Corona-Zeiten", betonte Kruse.
