Bundeswehr in Litauen: "Der 24. Februar war ein Game-Changer"
Die Panzergrenadierbrigade 41 "Vorpommern" schützt derzeit die Nordost-Flanke der NATO in Litauen. Ihr Auftrag hat durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine schlagartig an Brisanz gewonnen.
Die Transportkolonne ruckelt über die holprigen Sandwege auf dem Truppenübungsplatz Pabrade in Litauen und wirbelt dichte Staubwolken auf - nur sieben Kilometer entfernt von der belarussischen Grenze. Plötzlich rattert Maschinengewehrfeuer - der Treck ist in einen Hinterhalt geraten. Die MG-Schützen in den Luken der Fahrerkabinen schwenken ihre Waffen und erwidern das Feuer - mitten aus der Fahrt. Zwischen den Gebüschen klappen Pappkameraden nach jedem Treffer um. Doch der Feind gibt nicht nach. Der taktische Führer der Kolonne muss sich in Sekundenschnelle entscheiden: Schnell weiter oder den in der Heidelandschaft jenseits des Sandwegs angreifenden Gegner bekämpfen? Er entscheidet sich für Letzteres. Schützen sitzen ab und schmeißen sich mit ihren Gewehren in den staubigen Sand. Dann entbrennt ein minutenlanges Feuergefecht, hunderte Platzpatronenhülsen säumen innerhalb kürzester Zeit den Weg.
Teamwork im Verbund mehrerer NATO-Partner
Bald geht einem der Schützen des multinationalen Verbands - einem Tschechen mit einem Gewehr des tschechischen Herstellers Bren - die Munition aus. Weil so schnell keine vollen Magazine nachgeführt werden können, rollt er sich kurzerhand zur Seite und schnappt sich das deutsche Zweitgewehr seines deutschen Kameraden neben ihm. Dann wird wieder zurückgeschossen. Teamwork ist essenziell in der von Deutschland angeführten, mittlerweile 1.600 Soldaten umfassenden multinationalen Battlegroup. Sie wurde in Litauen im Rahmen der enhanced Forward Presence (eFP, "verstärkte Vornepräsenz") der NATO als Reaktion auf die russische Annexion der Krim und den Krieg im Donbass gebildet. Neben Deutschen gehören Soldaten aus den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Norwegen, Island und Tschechien dazu.
Soldaten aus MV an der Nordost-Flanke der NATO
Seit 2017 heißt es für die Battlegroup in Litauen: üben, ausbilden, abschrecken. Derzeit läuft die Übung "Victorious Griffin" ("Siegreicher Greif"). Mitten im Geschehen stehen Einheiten aus Mecklenburg-Vorpommern. Denn das deutsche Kontingent der elften Rotation - alle sechs Monate werden Personal und Material ausgetauscht - stellt die Panzergrenadierbrigade 41 aus Neubrandenburg. Mehrere Hundert Soldaten aus Mecklenburg-Vorpommern von mehreren Standorten im Nordosten und weiteren Bundesländern sind seit Anfang des Jahres an der NATO-Ostflanke im Einsatz.
"Der Krieg ist wieder im Herzen Europas zurück"
Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar hat der Einsatz schlagartig an Brisanz gewonnen. Das hat sich auch auf die Soldatinnen und Soldaten vor Ort ausgewirkt, wie der Kommandeur der Battlegroup, Oberstleutnant Daniel Andrä vom im vorpommerschen Viereck stationierten Panzergrenadierbataillon 411, dem NDR in MV erklärt. "Am 24. Februar haben wir direkt abends alle Männer und Frauen informiert, um sie auch ins Lagebild zu setzen. Am Anfang wusste keiner, wie schnell geht es. Und vor allem wusste keiner, was kommt als Nächstes", so Andrä. Der 24. Februar sei ein "Game-Changer" gewesen. "Der Krieg ist wieder im Herzen Europas zurück - und wir sind hier noch ein bisschen dichter dran am Geschehen, als man das in anderen westeuropäischen Ländern ist." Die ukrainische Grenze ist von Pabrade nur 450 Kilometer entfernt. "Wir haben mit Litauen eine Grenze zu Kaliningrad - also sprich zu Russland - und auch zu Belarus."
Dankbare Litauer: Applaus und Daumen hoch am Straßenrand
Die Bedrohungswahrnehmung sei bei den Menschen in Litauen noch eine deutlich andere als in Deutschland. "Die Litauer sagen immer: Stoppen wir Russland in der Ukraine nicht, dann sind wir die nächsten." Auch andere Soldaten der Battlegroup berichten, dass die Litauer sehr dankbar über die Präsenz der NATO-Truppen seien. Das zeige sich etwa anhand des spontanen Applauses oder hochgereckter Daumen, wenn eine Kolonne der Battlegroup durch litauische Ortschaften fährt. Am Auftrag selbst hat sich auch nach dem 24. Februar "grundsätzlich nichts geändert", so der Kommandeur. "Unser Auftrag ist weiterhin, einen robusten Beitrag für eine glaubwürdige Abschreckung zu liefern und zum zweiten bereit zu stehen, Litauen oder das Baltikum zu verteidigen, wenn das notwendig wird." Konkret bedeute dies eine erhöhte Übungstätigkeit - auf dem Truppenübungsplatz in Pabrade auch mit scharfer Munition.
"Unsere Präsenz ist wichtiger denn je"
Bei vielen Soldaten des deutschen Kontingents der Battlegroup ist das "mulmige Gefühl", das den ein oder anderen angfangs noch beschlichen habe, einer gewissen Routine gewichen. Respekt ja, Angst nein, könnte man die Reaktionen zusammenfassen. "Es ist jetzt ein ein anderes Gefühl als das, was man hatte, als man hier angekommen ist", sagt etwa Oberfeldwebel Michael (die Nachnamen werden zum Schutz der Soldaten nicht genannt) von einer Flugabwehreinheit. "Man weiß ja, was hier passiert oder nicht passiert. Es ist normaler Tagesdienst." Der Oberstabsgefreite Heiko, Panzerabwehrschütze einer Einheit aus Torgelow, sieht es ähnlich: "Man hat angefangen, viel mehr darüber zu reden und sich viel mehr darüber zu informieren. Aber an sich ist alles gleich geblieben." Und für Hauptfeldwebel Kevin steht fest: "Für unseren Auftrag hier hat es noch mal unterstrichen, dass unsere Präsenz hier gefragt ist, beziehungsweise wichtiger ist denn je." Manch einer der Soldaten hat auch wahrgenommen, dass die Wertschätzung für ihre Arbeit und die Bundeswehr im Allgemeinen in letzter Zeit gestiegen sei.
Kriegsängste auch als Generationenfrage
Unisono sagen fast alle Soldaten, mit denen wir gesprochen haben, dass die Sorgen bei den Ehefrauen, den Familien und Freunden zu Hause viel größer sind. Einige haben Ehefrauen, die selbst Teil der Streitkräfte sind. "Da ist meine Frau in der Bütt, die Aufklärungsarbeit zu leisten. Denn aktuell besteht für uns keine Bedrohungslage", sagt Hauptfeldwebel Kevin. Bei Soldaten, die schon in anderen - auch gefährlicheren - Auslandseinsätzen wie etwa in Afghanistan waren, haben sich die Angehörigen zu Hause zwar in gewissem Maße an die mitschwingenden Ängste gewöhnt, wie etwa beim Oberstabsgefreiten Heiko. "Die Gemüter sind trotzdem nicht so gut drauf. Ein bisschen Angst ist immer dahinter", sagt er. Für den aus dem nordwestmecklenburgischen Selmsdorf stammenden Hauptfeldwebel Christian, Gruppenführer in der leichten Spähgruppe der Aufklärungskompanie, ist die Haltung zum Einsatz in Krisengebieten auch eine Generationsfrage: "Gerade bei den Großeltern war es deutlich zu erkennen: das ist die Kriegs- beziehungsweise Nachkriegsgeneration. Die kennen noch Krieg in Europa und sind natürlich wesentlich sensibler gestimmt auf die Gesamtthematik."
Litauen im Fokus der Weltpolitik
Dass der Einsatz an der Ostflanke seit dem 24. Februar schlagartig stärker in den Fokus gerückt ist, zeigt sich auch anhand dreier Ereignisse der vergangenen Woche. Am 7. Juni besuchte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Bundeswehr-Soldaten auf dem Übungsplatz in Pabrade und kündigte eine weitere Verstärkung der deutschen Präsenz möglicherweise bis hin zu einer "robusten Kampfbrigade" an - das wären mehrere Tausend Soldaten. Nur zwei Tage später sorgte eine Nachricht aus der russischen Staatsduma für Aufsehen in Litauen. Ein Abgeordneter der Mehrheitspartei "Einiges Russland" hatte einen Gesetzentwurf eingebracht. Sein Inhalt: die Aberkennung von Litauens blutig erkämpfter Unabhängigkeit 1990. Am selben Tag zog Russlands Machthaber Wladimir Putin Parallelen zwischen seiner Politik und jener Peter des Großen während dessen Krieg gegen Schweden im 18. Jahrhundert. Peter der Große habe "nichts genommen, er hat es zurückgeholt", so Putin. Sätze, die in dieser Zeit einen besonderen Klang haben. Ebenfalls in der vergangenen Woche hatte der Bundesrat schließlich das 100-Milliarden-Euro Sondervermögen für die Bundeswehr abgesegnet, mit dem Ausrüstungsdefizite der Truppe behoben werden sollen.
"Mit allem ausgerüstet, was wir brauchen"
Bei der Battlegroup in Pabrade ist von den Ausrüstungsmängeln der Truppe nicht viel zu sehen. Auf dem Gelände ist von der modernsten Version des Kampfpanzers Leopard 2 über den gepanzerten Transporter Boxer und die Panzerhaubitze 2000 bis zur Aufklärunsgdrohne Luna fast alles da, was die Bundeswehr zu bieten hat. Das bestätigt auch Oberstleutnant Andrä, der Kommandeur: "Die Battlegroup ist mit allem ausgerüstet und ausgestattet, was wir brauchen. Die wenigen Dinge, die wir vielleicht am Anfang noch nicht zu 100 Prozent hier hatten, haben wir sehr, sehr schnell bekommen". Andrä verweist darauf, dass die Battlegroup sukzessive ausgebaut wurde - mit zusätzlichen Artillerie-Fähigkeiten, Aufklärungseinheiten, Flugabwehrtrupps und sogar ABC-Abwehrfähigkeiten. "Genauso haben wir eine umfangreiche Anzahl an Munition hier verfügbar. Alles, was man braucht, um das Gefecht hier klassisch im Kampf der verbundenen Waffen zu führen."
Die Bundeswehr funkt analog
Gleichwohl sind die Auswirkungen der Vernachlässigung der Bundeswehr auch in Litauen zu spüren. So funken die Kommandanten auf dem Schützernpanzer "Marder" immer noch analog, während ihre norwegischen und niederländischen Kameraden längst im Digitalzeitalter angekommen sind. Das führt dazu, dass manches Mal mit Rufen von Panzerturm zu Panzerturm kommuniziert wird, wie jüngst der Inspekteur des Heeres einräumte. Die Verbündeten der Deutschen wollen schlicht nicht das Sicherheitsrisiko unverschlüsselter Kommunikation auf sich nehmen. Die Rückstände seien der Bundeswehr-Führung bekannt, sagt Oberstleutnant Andrä. "Natürlich sind wir hier den anderen einen Schritt zurück und haben eine Menge nachzuholen. Nicht umsonst ist ein großes Stück des 100-Milliarden-Euro-Paketes dafür vorgesehen, die Führungsfähigkeit und auch die digitale Führungsfähigkeit entsprechend zu verbessern, um hier State of the Art zu werden."
Der Einsatz in Litauen ist auch Thema der neuen Folge des Podcasts Dorf-Stadt-Kreis.