Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), spricht mit Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen), die mit dem Rücken zur Kamera steht. © picture alliance/dpa/dpa-pool | Michael Kappeler Foto: Michael Kappeler

Kommentar: Zeit der schweren Waffen - und der Symbolik

Stand: 07.05.2022 11:58 Uhr

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat seine Haltung zur militärischen Unterstützung der Ukraine geändert. Nun liefert Deutschland Waffen - inzwischen sogar schwere Waffen wie Panzer und Haubitzen. Auf diplomatischem Parkett hat sich das Verhältnis zwischen Deutschland und der Ukraine verbessert - durch ein Telefonat zwischen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

Der NDR Info Wochenkommentar von Gordon Repinski, stellvertretender Chefredakteur von "The Pioneer"

Die Tür ist geöffnet. Nach Wochen der diplomatischen Scharmützel zwischen der Bundesregierung und der ukrainischen Führung ist der Weg frei für den Besuch von Kanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Kiew. Gut so. Dieser Krieg verdient eines am wenigsten: Nebensächliche Auseinandersetzungen zwischen Staaten, die eigentlich ihre politischen Ziele teilen - die den russischen Aggressor zurückdrängen und den Sieg Wladimir Putins verhindern wollen.

Gordon Repinski stellv. Chefredakteur und Leiter d. Hauptstadtbüros vom RND RedaktionsNetzwerk Deutschland © RND RedaktionsNetzwerk Deutschland Berlin GmbH Foto: Maurice Weiss
"Der Kanzler sollte bald nach Kiew fahren", meint Gordon Repinski.

Dass Scholz sich nach der rüden Ausladung des Bundespräsidenten schwer getan hat mit einer Reise nach Kiew, ist nur allzu verständlich. Denn auch wenn es manchem anders erscheint: Deutschland tut gerade im Bereich der Waffenlieferungen mittlerweile sehr viel für die Ukraine. Nach Gepard-Panzern folgen nun Panzer-Haubitzen, beides schweres, militärisches Gerät, das in dieser Form kaum ein NATO-Partner bisher dem Land zur Verfügung gestellt hat.

In der Realität hat Deutschland längst die besondere Verantwortung angenommen, die dieser Krieg mit sich bringt. Doch ein Krieg findet immer auf zwei Ebenen statt. Auf der materiellen und auf der psychologischen Ebene. Und gerade letztere beinhaltet Sprache, Auftritt, Symbolik - all die Dinge, die nicht in erster Linie zu den Stärken von Olaf Scholz gehören.

Deutschland muss ins eigene Risiko gehen

In diesen Tagen jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Vor 77 Jahren kapitulierte Deutschland, die besondere historische Verantwortung aus der Vergangenheit trägt auch Olaf Scholz in seiner Kanzlerschaft mit sich. Es ist vor allem die Verantwortung, sich kriegerischen, imperialistischen und zerstörerischen Handlungen auf diesem Kontinent an vorderster Front entgegen zu stellen. Frieden in Europa kann für Deutschland nicht bedeuten, "aus der Mitte" zu führen oder auf die Aktivität anderer Alliierter zu hoffen, sondern ins eigene Risiko zu gehen. Im Ukraine-Krieg hat es eine Weile gedauert, bis Scholz diese Rolle verstanden und angenommen hat. Aber es gibt keine Alternative dazu. Hätten die Vereinigten Staaten 1944 gezögert mit ihrem Eingreifen gegen den Aggressor Deutschland - die Geschichte hätte eine schlechte Wendung genommen.

Scholz als Vermittler? Ein falscher Gedanke in dieser Situation

Scholz’ zeitweilige Vorsicht dürfte noch einer anderen strategischen Überlegung zugrunde liegen: Der Krieg in der Ukraine, so des Kanzlers Überlegung, wird wohl kaum mit einem eindeutigen Sieg der einen oder anderen Seite enden. Irgendwann werden sich Ukraine und Russland zu Friedensgesprächen zusammensetzen müssen und über einen Frieden verhandeln - auch wenn derartige Gespräche im Schatten des Leids von Mariupol und anderen Städten noch weit entfernt erscheinen. Glaubt Scholz, er könne eine vermittelnde Position in dieser Situation einnehmen? 

Es wäre ein falscher Gedanke. Deutschland ist Partei in diesem Krieg, in dem das Grauen präsent ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr auf diesem Kontinent. Und Deutschland sollte dies auch bewusst und ohne Zurückhaltung sein. In Moskau muss Wladimir Putin die Einsamkeit und Isolation spüren, in die er sich und sein Land manövriert hat. Er muss verstehen, dass er nicht gewinnen kann, weil die andere Seite sich ihm unmissverständlich entgegenstellt.

Kanzler sollte bald nach Kiew fahren

Es ist die Zeit der schweren Waffen - einerseits. Aber es ist - und damit sind wir wieder am Anfang - eben auch die Zeit der Symbolik. Vor 60 Jahren stand der US-Präsident John F. Kennedy vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin und sagte die Worte: "Ick bin ein Berliner". Es war am Ende auch Symbolik. Der US-Präsident reist in eine bedrohte Stadt, um ihr und dem ganzen Land die Solidarität zu demonstrieren, die es braucht. Es sind Worte, die sich eingebrannt haben in das deutsche Gedächtnis. Da war jemand da, der hat uns nicht im Stich gelassen. 

Diesmal sind wir es, die nicht im Stich lassen dürfen. Und die das auch zeigen können - und sollten. Der Kanzler sollte bald nach Kiew fahren. Die historische Stunde dazu ist angebrochen, denn nie war Symbolik so wichtig wie in diesen Tagen.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Kommentar | 08.05.2022 | 09:25 Uhr