Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine winken zu Anhängern in der Parteizentrale in Ankara, Türkei. © dpa-Bildfunk/AP Foto: Ali Unal

Kommentar: Wünsche sind nicht stärker als die Wirklichkeit

Stand: 21.05.2023 00:00 Uhr

Die Berichterstattung im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in der Türkei und der Wahlausgang haben es wieder einmal gezeigt: Der Wunsch vieler Politiker und Medienschaffenden und dann die Wirklichkeit liegen oft weit auseinander. Lassen sie sich zu sehr von eigenen Erwartungen leiten und blenden die Realität aus?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine winken zu Anhängern in der Parteizentrale in Ankara, Türkei. © dpa-Bildfunk/AP Foto: Ali Unal
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von Christoph Schwennicke, freier Autor

Wenn sich ein rechtschaffen Konservativer wie Volker Kauder einen Sinnspruch einer linken Lichtgestalt zu eigen, ja zu seinem Motto macht, dann muss an dem Satz wirklich was dran sein. "Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit", hob der frühere Unionsfraktionschef in seinen regelmäßigen Hintergrundkreisen gerne an, sobald er eine Frage aus dem Kreis der Hauptstadtpresse etwas ausführlicher zu beantworten gedachte. Manche von den Längergedienten rollten ab und an schon mit den Augen, wenn Kauder wieder mal seinen Genossen Kurt Schumacher hervorholte. Aber in den Satz kann man sich schon über alle Parteigrenzen hinweg verlieben, so wahr ist er - und so oft wird leider gerade hierzulande gegen ihn verstoßen.

Vermutete Aussicht und das Wahlergebnis stimmen nicht überein

Christoph Schwennicke © dpa Foto: Sven Simon
Christoph Schwennicke meint, dass das Wünschenswerte nicht die praktische Politik bestimmen sollte.

Zuletzt bei der Präsidentenwahl in der Türkei. Was hatte sich nicht für eine fiebrige Vorfreude eingeschlichen bei der vermuteten Aussicht, dass zum ersten Mal seit fast zwei Jahrzehnten Recep Tayyip Erdogan, der regierende Sultan von Ankara, seinen Posten verlieren würde und dass dem unter Erdogan in einen Islamo-Nationalismus abgeglittenen NATO-Land ein Neuanfang nach unseren westlichen Werten winken könnte.

Wirtschaftskrise, galoppierende Inflation, ein fürchterliches Erdbeben, dessen Folgen die Regierung schlecht gemanagt hatte, dazu ein Beinahe-Allparteien-Bündnis, das sich auf einen Herausforderer verständigt hatte: Das muss doch diesmal was werden! So dachte und frohlockte die politisch-publizistische Klasse. Pustekuchen, muss man leider sagen. Noch ist die Stichwahl nicht erfolgt, aber da ein dritter ausgeschiedener Kandidat mit einem ultranationalistischen Programm antrat, muss man kein Polit-Prophet sein, um vorherzusehen: Der neue Präsident der Türkei wird der alte sein.

Die Welt so sehen, wie sie ist

Der legitime Wunsch als Richtschnur zur Analyse der tatsächlichen Verhältnisse: Wie oft muss das eigentlich noch schiefgehen, bis die notwendigen Lehren daraus gezogen werden. Die Welt so zu sehen, wie sie ist - und nicht, wie wir sie gerne hätten.

Einschneidendes Erlebnis und Lehre genug hätte das Brexit-Ereignis im Sommer 2016 sein müssen. Bis zuletzt wurde mehrheitlich prophezeit, dass es zwar eng werden würde, dass aber die Remainer schon die Oberhand über die Brexiteers behalten würden. Und doch wachte die Welt auf und musste erleben, dass der Wunsch nicht stärker war als die Wirklichkeit und diese widerborstige Wirklichkeit der Europäischen Union einen Austritt Großbritanniens bescherte.

Wunschdenken führt nicht nur falsche Vorhersagen herbei

Nächstes Beispiel - ebenfalls 2016 im November - war die US-amerikanische Präsidentschaftswahl. Weil sich kein vernunftbegabter Mensch Donald Trump als US-Präsident wünschen konnte, ging die Mehrheitsmeinung, vor allem die veröffentlichte, davon aus, dass der Populist es nicht schaffen würde, Hillary Clinton zu schlagen. Und doch wachte alle Welt jäh am Morgen nach der Wahl mit der Erkenntnis auf, dass man sich da schwer was vorgemacht hatte.

Wenn es bei bloßen Fehlprognosen bliebe, wäre das alles noch irgendwie verkraftbar. Aber das Wünschenswerte bestimmt die praktische Politik auch da, wo sie handelt und dieses Wunschdenken mehr als nur falsche Vorhersagen herbeiführt.

Realpolitik statt Moralpolitik

Beispiel China. Natürlich kann man sich dort ein anderes Regime wie eben auch in Ankara wünschen. Realistischerweise müsste aber eine Bundesaußenministerin erkennen, dass sie den Regimewechsel nicht durch eine beinharte und konfrontative Ansprache herbeiführen wird, die bei ihrem jüngsten Besuch in Peking den chinesischen Außenminister neben ihr zu Stein erstarren ließ. Moralische Belehrung des Gastgebers mag sich gut anfühlen, ändert aber an der Menschenrechtslage in China gar nichts und wird auch eine chinesische Führung nicht zum Einlenken bewegen.

Man muss Chinas politische Führung nicht mögen und schon gar nicht deren totalitäre Politik zum Vorbild nehmen, aber man muss sie zur Kenntnis nehmen. Realpolitik statt Moralpolitik bedeutet, zu akzeptieren, dass China eine führende Rolle in der Welt spielt, vielleicht schon die führende Rolle. Und dass es mutmaßlich für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine eine Lösung nur mit den Chinesen geben wird. Oder sogar durch sie.

Macrons richtige Erkenntnis in Sachen China

Wenige Tage vor Annalena Baerbock (Grüne) war auch der französische Präsident Emmanuel Macron nach Peking gereist. Die Empörung über seine Einlassungen beim Rückflug geriet hierzulande einhellig. Dabei irrte Macron nur in einem: Dass Europa eine Art dritte Kraft sein könnte zwischen den USA und China. Davon sind die Europäer so weit entfernt wie die Seidenstraße lang ist. Aber dass man China als Player akzeptieren muss, hatte Macron richtig erkannt und benannt. So wie die Türkei auch. Sie und die Vereinten Nationen, Erdogan und UN-Generalsekretär António Gutteres haben den jüngsten Deal mit Russland zur weiteren Ausfuhr ukrainischen Getreides übers Schwarze Meer ausgehandelt. Von der EU in der Sache weit und breit keine Spur.

Höchste Zeit für Realismus

Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit, hat Kurt Schumacher gesagt und Volker Kauder immer zitiert. Schumacher ist seit bald 71 Jahren tot, Kauder seit fünf Jahren nicht mehr Fraktionschef. Höchste Zeit, die Wirklichkeit von unserem Wunschdenken zu befreien! Fangen wir doch endlich damit an. Und richten uns schon mal auf eine weitere Amtszeit Erdogans in der Türkei ein, anstatt ihn uns abermals erfolglos wegzuwünschen.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 21.05.2023 | 09:25 Uhr