Kommentar: Selbstverschuldet am Pranger
Was tun gegen den russischen Angriffskrieg auf das Nachbarland Ukraine? Zu einem umfassenden Energie-Boykott gegen Russland kann sich die Regierung von Bundeskanzler Scholz bislang nicht durchringen. Ökonomen halten die Folgen allerdings für verkraftbar.
Der Wochenkommentar "Die Meinung" von Heike Göbel, FAZ
Mit jedem Kriegstag wächst der außenpolitische Druck auf die Bundesregierung, der Ukraine wirksamer zu helfen: nicht nur mit schweren Waffen, sondern auch durch raschen Verzicht auf Import russischer Energie. An der hängt immerhin etwa ein Drittel der deutschen Energieversorgung. Präsident Wladimir Putin finanziert seinen Angriff auf das Nachbarland mit dem Verkauf von Kohle, Öl und Gas. Allein aus der EU fließt angeblich eine Milliarde Euro täglich. Je schneller der Geldstrom versiegt, desto schneller wird Putins Kriegsmaschinerie zumindest gestört. Ohne die Einnahmen kann Putin seine Bürger schlechter abschirmen vor den Folgen der Sanktionen: hohe Inflation, Mangelwirtschaft, Verlust von Arbeitsplätzen. Das dürfte die Propaganda und den Rückhalt schwächen. Offen hat Russlands Zentralbankchefin jetzt vor schweren wirtschaftlichen Schäden gewarnt und damit eingeräumt, dass schon die verhängten Finanzsanktionen langsam tiefere Spuren hinterlassen.
Industrie und Gewerkschaften warnen vor Embargo

Die Europäische Union scheut einen Energieboykott wegen der enormen Risiken für die eigenen Volkswirtschaften. Sie hat sich bisher nur zu einem Kohlestopp durchgerungen, wirksam erst in einem Vierteljahr. Seit Wochen prüft sie zwar auch einen Boykott des für Putins Kasse ungleich wichtigeren Öls. Aber ob sich nach der Frankreich-Wahl hier endlich etwas bewegt, ist völlig offen. Und vom Gas ist bisher nicht die Rede. Vor allem Deutschland lehnt das ab. Durch seinen unüberlegten energiepolitischen Sonderweg, dem schnellen Verzicht auf Kernkraft und Kohle, ist es besonders abhängig vom günstigen russischen Pipeline-Gas. Während für Öl und Kohle bald alternative Lieferanten zur Verfügung stehen könnten, wenn auch zu höheren Preisen, ist russisches Gas hierzulande nicht leicht zu ersetzen. Jeder dritte Haushalt heizt mit Gas. Wichtige Industriebranchen - Chemie, Stahl, Autohersteller - sind auf verlässliche Versorgung angewiesen. Sie warnen, gemeinsam mit den Gewerkschaften, in drastischen Worten vor wirtschaftlichen Schäden und massenhaftem Arbeitsplatzverlust bei einem abrupten Importverbot. Die Bundesregierung nimmt das bislang so ernst, dass sie einen Boykott ausschließt.
Andere EU-Staaten ducken sich hinter Deutschland
Zu Hilfe kommt ihr US-Finanzministerin Janet Yellen. Sie weist daraufhin, dass wenig gewonnen wäre, wenn Putin durch ein westliches Embargo weniger fossile Energie exportierte, das aber zu stark steigenden Preisen. Dann schade der Boykott nur dem Westen. Auch in der EU steht Deutschland nicht so isoliert da, wie es lautstarke Kritiker nahelegen. Österreich und Ungarn fiele der Verzicht auf günstiges Öl oder Gas ähnlich schwer, auch Spanien, Belgien und selbst Frankreich sind ganz froh, sich hinter der deutschen Ablehnung ducken zu können.
Schock für die Wirtschaft wäre verkraftbar
Die deutsche Position wird allerdings zunehmend erschüttert durch Modellanalysen renommierter Ökonomen, die selbst den Schock eines schnellen Total-Boykotts für verkraftbar halten. Natürlich sind viele ihrer Annahmen mit großer Unsicherheit behaftet. Aber am Freitag hat sich die Bundesbank in diesen Chor eingereiht. Auch ihre Szenarien kommen zu dem Schluss, dass die deutsche Wirtschaftsleistung im ungünstigsten Fall in diesem Jahr etwa zwei Prozent schrumpfen würde. Ein heftiger Schlag, aber doch weniger als die Rezession im ersten Corona-Jahr mit einem Minus um fünf Prozent. Da die Bundesbank als vorsichtig bekannt ist, kann die Ampelkoalition die Zahlen nicht mehr so leicht abtun als unverantwortliche Rechnungen realitätsfremder Wissenschaftler.
Warum sollen Bürger Vorrang vor Unternehmen haben?
Zwei Prozent Wirtschaftseinbruch? Das scheint für ein wohlhabendes Land ein akzeptabler Preis für den Erhalt von Leben in der Ukraine und die Sicherung auch der eigenen Freiheit. Die privaten Unternehmen haben hierzulande schon oft gezeigt, wie flexibel, einfallsreich und widerstandsfähig sie Krisen überwinden. Zudem kann und muss die Bundesregierung kurzfristig mehr tun, um einen plötzlichen Stopp russischen Gases (für den schließlich auch Putin eigenhändig sorgen könnte) verkraftbar zu machen. Es fehlt zum Beispiel ein überzeugender Notfallplan für den Fall einer Gas-Rationierung. Warum sollen Bürger Vorrang vor der Belieferung der Unternehmen haben, an denen ihre Jobs hängen? Die gescholtenen Ökonomen haben zudem viele weitere Vorschläge parat, um die Reserven zu schonen und Putin zu schwächen.
Die Bundesregierung wird ein weiteres Nein zu einem raschen Boykott von Öl und Gas jedenfalls künftig besser erklären müssen. Dazu gehört der Nachweis, dass sie die ihr zur Verfügung stehenden Instrumente zur Minderung des Wirtschaftsrisikos ausgeschöpft hat. Solange sie beides schuldig bleibt, steht Deutschland selbstverschuldet am moralischen Pranger.
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