Eine Busfahrerin gibt einem Kunden in einem Hamburger Bus sein Neun-Euro-Ticket. © dpa/Markus Scholz Foto: Markus Scholz

Kommentar: Neun-Euro-Ticket ist nicht viel mehr als ein Strohfeuer

Stand: 29.05.2022 00:00 Uhr

In der kommenden Woche wird das Neun-Euro-Ticket für Busse und Bahnen im Nah- und Regionalverkehr gültig. Über das verbilligte Ticket für die Monate Juni, Juli und August wurde inzwischen viel diskutiert. Es soll die Bürgerinnen und Bürger etwas entlasten. Aber gelingt das auch?

Ein Kommentar von Cora Stephan, freie Autorin

Es ist ein bewährtes politisches Prinzip: dem Bürger aus der einen Tasche nehmen, was man ihm in die andere Tasche wieder hineinsteckt. Koste es, was es wolle. Probleme werden mit Staatsknete vulgo Steuergeld zugedeckt, das kennen wir seit Jahren. Nichts ist einfacher, das Geld muss ja noch nicht einmal mehr gedruckt werden. So war es während der staatlich verordneten Corona-Maßnahmen, die sich als nutzlos und unangemessen erwiesen haben, so ist es auch jetzt wieder, da die Fortbewegung per Pkw richtig teuer geworden ist.

Was tun? Es wird ein immerhin zweieinhalb Milliarden Euro teures Paket geschürt: das Neun-Euro-Ticket für den öffentlichen Personennahverkehr. Wer da nicht zugreift, ist selbst schuld. Und es wird zugegriffen, das Ticket geht offenbar weg wie warme Brötchen.

Neun Euro pro Monat, die man auch für tagelange Fahrten durch die schönen deutschen Landschaften nutzen kann - das ist für wahr geschenkt. Das Ticket erfüllt dabei zweierlei Funktionen, ist also ein echtes Meisterstück. Es entschädigt ein wenig für die enorm gestiegenen Benzinkosten. Vor allem aber soll es helfen, dem Autofahren den Garaus zu machen. Seht her, liebe Autofahrer, hier ist die Alternative: Busse und Bahnen.

Bundesregierung sollte die Spritpreise senken

Ein Porträtbild von der Autorin Cora Stephan. © n.n. Foto: n.n.
Autofahrerinnen und Autofahrer sollten finanziell mehr entlastet werden, meint Cora Stephan.

Dass Tanken so teuer geworden ist, liegt auch, aber nicht nur am gestiegenen Preis für Rohöl, der im Übrigen momentan wieder sinkt. Statt Milliarden ins Neun-Euro-Ticket zu investieren, läge es auch in der Macht der Regierung, die Spritpreise zu vergünstigen - denn mehr als die Hälfte davon sind Steuern. Schon protestieren Flixbus und Co.: Sie erhalten keinen Ausgleich für gestiegene Benzinkosten. Doch was hilft es schon, mit der Realität zu argumentieren? Das würde nur das schöne Spiel zerstören.

Was den Autofahrern an der Tankstelle abgeknöpft wird, gibt man ihnen lieber milde lächelnd zurück, sofern sie das Auto stehen lassen. Dafür dürfen sie das Reisen in vollen Zügen genießen und auf zugigen Bahnhöfen auf ausgefallene Züge warten. Schmuddelige Abteile, Verspätungen, widersinnige Taktungen und ein unzureichendes Netz inbegriffen. Spätestens seit 1990 wurde die Bahn systematisch heruntergewirtschaftet. Dafür sind die Preise für Bahntickets im Nahverkehr seit 2015 um 19 Prozent teurer geworden. Nun, das ändert sich ja jetzt - allerdings nur für drei Monate.

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Wird sich das Neun-Euro-Ticket als Flop erweisen?

Ob man damit wirklich möglichst viele Pendler langfristig vom Auto in den ÖPNV bringt, wodurch man die "notwendige Verkehrswende" erreicht, wie es heißt? Oder wird sich das Ganze als Flop erweisen? Denn Bahnen und Busse werden von Juni bis August im ganz normalen Takt fahren, die Streckeninfrastruktur ist ja schon jetzt weitgehend ausgelastet. Schon jetzt muss sich der Bahnfahrer auf Ausfall und Verspätung einstellen. Wie also wird das sein, wenn das Regionalbahnfahren im Sommer zum Volkssport wird? Und was geschieht in drei Monaten, wenn der geschenkte Gaul nicht mehr reitet?

Grundsätzliche Kritik kommt vom deutschen Städte- und Gemeindebund, wo man darauf hinweist, dass die Milliarden besser angelegt wären, würde man sie für zusätzliche Verbindungen und für eine bessere Taktung verwenden - und insbesondere den ländlichen Raum berücksichtigen, wo man aufs Auto angewiesen ist, im Unterschied zu den Städten. Mit anderen Worten: Hier wird ein Strohfeuer entzündet.

Deutschland nähert sich infrastrukturell dem Kollaps

Das größere Problem der Bundesbahn ist im Übrigen nicht der Personenverkehr, sondern die Güterbahn. Wer seine Produkte mit DB Cargo an den Kunden bringen will - halbwegs pünktlich und einigermaßen kostengünstig -, ist angeschmiert. Güter gehören auf die Schiene? Schön wär's. Man merkt es am Elefantenrennen der Lkw auf den deutschen Autobahnen, die auch deshalb in einem Zustand sind, der nach einer Verkehrswende geradezu schreit. Deutschland nähert sich - auch was seine Infrastruktur betrifft - dem Kollaps.

Nun, Problemlösungen in die Zukunft zu verschieben, ist mittlerweile üblich geworden in diesem Land. Die massive Neuverschuldung des Bundes mit hier einer Milliarde und dort einer Milliarde wird künftigen Generationen zu schaffen machen - auch denen, die glauben, ein Klimawandel wäre ihr größtes Problem.

Insofern muss man das Experiment mit dem Neun-Euro-Ticket von Herzen begrüßen. Millionen begeisterte Zugfahrer werden überfüllte Züge stürmen, das jetzt schon fragile System zum Kollaps bringen und damit vor Augen führen, dass den frommen Sprüchen keine Substanz entspricht. Wer Personen- oder Güterverkehr von der Straße auf die Schiene bringen will, sollte nicht in Billigtickets einen Sommer lang investieren, sondern in eine Struktur, die man jahrelang ebenso vernachlässigt und kaputtgespart hat wie die Bundeswehr.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 29.05.2022 | 09:25 Uhr