Die Fahne der Ukraine weht zwischen der europäischen (l.) und deutschen Fahne (r.) vor dem Bundeskanzleramt in Berlin. © Kay Nietfeld/dpa

Kommentar: Krieg in der Ukraine - Zeitenwende oder Zeitenende?

Stand: 09.10.2022 09:25 Uhr

Mit der Annektierung ukrainischer Gebiete durch Russland ist der Krieg in der Ukraine weiter eskaliert. Verhandlungsoptionen scheint es kaum zu geben. Trotzdem ist eine diplomatische Offensive wichtig - Gesprächsversuche sind notwendig und dürfen nicht abgelehnt werden.

Ein Kommentar von Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der "Süddeutschen Zeitung"

Der Krieg in der Ukraine und die kriminelle Annexionspolitik Putins sind bittere Realität. Realität ist aber auch die Gefahr, dass dieser Krieg mit Worten und mit Waffen gefüttert wird, bis er platzt. Dann ist Hiroshima überall. Das wäre nicht die von Kanzler Scholz angekündigte Zeitenwende, das wäre das Zeitenende für Europa. Der Einsatz von Atomwaffen durch einen sich gedemütigt fühlenden Putin wäre die Apokalypse, die der Philosoph Günther Anders vor fünfzig Jahren beschrieben hat: "Endzeit und Zeitenende" hieß sein Buch aus dem Jahr 1972, das die Friedensbewegung und die Grünen von damals prägte. Die Grünen von heute sagen: Wir dürfen uns von Putin nicht erpressen lassen. Das ist wohl wahr. Richtig ist aber auch: Wir dürfen uns nicht zerstören lassen. Ein Nuklearkrieg wäre das Ende des eurasischen Kontinents. Das ist heute nicht, wie es dem Philosophen Anders damals vorgeworfen wurde, ein katastrophisches Geschichtsdenken, sondern ein realistisches.

Für Diplomatie zu werben ist keine Parteinahme für Putin

Porträtbild des Journalisten Heribert Prantl. © picture alliance / Sven Simon Foto:  Anke Waelischmiller/SVEN SIMON
Man sei kein Pazifist, wenn man für Verhandlungen und für einen Waffenstillstand wirbt, meint Heribert Prantl.

Es ist deshalb fatal und unendlich töricht, dass hierzulande schon die Wörter "Waffenstillstand", "Friedensappell" und "Frieden" als anrüchig gelten, wenn sie im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg gebraucht werden. Es ist fatal, wenn das Werben für eine diplomatische Offensive fast schon als Beihilfe zum Verbrechen bewertet wird. Für Diplomatie zu werben ist keine Parteinahme für Putin, sondern eine Parteinahme für die Vernunft. Wenn der ukrainische Präsident jegliche Verhandlungen mit Putin ablehnt, muss man das verstehen, aber ihm dafür nicht applaudieren. Die Ablehnung von Verhandlungen gehört zur psychologischen Kriegsführung Selenskyjs, gehört zur Autorität tapferer Selbstbehauptung und zum Mut der Verzweiflung.

Selenskyj hat nie gebettelt, sondern gefordert: um umfangreichste Waffenlieferungen, um ein Eingreifen der NATO, um die Aufnahme in der EU und in die NATO; er hat das nicht erbettelt, sondern gefordert und er fordert es weiter, mit einem fast sakralen Stolz. Er muss das tun, weil er alles tun muss, um Putins Angriff abzuwehren. Und diese Forderungen führen ja auch dazu, dass vom Westen, auch von der Bundesrepublik Deutschland, sehr viel mehr gewährt und sanktioniert wird, als man dort eigentlich ursprünglich beabsichtigt hatte. 

Frieden stiften beginnt mit Reden

Es gibt einen berechtigten Zorn im Westen gegen Putin, aber trotzdem und gerade deswegen ist es wichtig, kühlen Kopf zu behalten. Wenn der Krieg weiter eskaliert, wenn der Einsatz von Nuklearwaffen sich realisiert - dann sind die letzten Dinge schlimmer als die ersten. Der Ukraine-Krieg ist kein Computerspiel und kein Blockbuster; die atomare Gefahr ist konkret. Sie wird nicht von Leopard-Panzern abgewendet, sondern durch Verhandlungen. Es ist eine Menschheitserfahrung, dass Frieden gestiftet werden muss. Wo sind die Stifter? Das Stiften beginnt mit Reden; und es darf nicht sein, dass Reden als von vornherein sinnlos erachtet wird. Ist es sinnvoller, den Krieg bis zum Platzen zu füttern?

Die dramatische Lage wird nicht dadurch entschärft, dass Diplomatie zum Unwort erklärt wird - wie es die wirrköpfige Twitter-Notiz von Minister Lauterbach und die Erklärungen des ukrainischen Noch-Botschafters Melnyk getan haben. Lauterbach hat geschrieben: "Was sollen denn jetzt Kniefälle vor Putin bringen? Wir sind im Krieg mit Putin und nicht seine Psychotherapeuten. Es muss weiter konsequent der Sieg in Form der Befreiung der Ukraine verfolgt werden. Ob das Putins Psyche verkraftet, ist egal". Soweit Lauterbachs dumme Twitterei. Nur den Satz "wir sind im Krieg mit Putin" hat Lauterbach zurückgenommen, alles andere nicht. Man würde sich wünschen, sein verstorbener Parteifreund Egon Bahr könnte Lauterbach die Leviten lesen. Lauterbach ist bekanntlich Chef eines Ministeriums, er redet aber wie ein Kneipenwirt. In seinem Amtseid hat er versprochen, das Wohl des Volkes zu mehren - nicht die Zahl der Klicks und der Fernsehauftritte.

Man ist kein Pazifist, wenn man für Verhandlungen und für einen Waffenstillstand wirbt. Man ist dann Realist.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 09.10.2022 | 09:25 Uhr