Windräder mit dahinterliegendem Kohlekraftwerk © photocase.de Foto: birdys

Kommentar: Durchhalte-Appelle reichen nicht

Stand: 30.09.2022 10:35 Uhr

Der Krieg in der Ukraine dauert an, auch Deutschland bekommt die Folgen existenziell zu spüren. Um kurzfristig die Energieversorgung zu sichern und langfristig die Energiewende zu schaffen, brauche es einen effektiven Staat und gesellschaftlichen Mut zur Veränderung, meint der Autor des NDR Info Wochenkommentars.

Die Meinung von Ulrich Schönborn, Chefredakteur der "Nordwest-Zeitung" (NWZ)

Das Ergebnis der Scheinreferenden im ukrainischen Donbass zur Annexion durch Russland ist wenig überraschend. Postwendend wurden die Gebiete zu russischem Staatsterritorium erklärt. Das ist eine weitere Eskalation in einem Krieg, der noch lange anhalten wird.

Diplomatische Offensive fehlt

Ulrich Schönborn Chefredakteur Nordwest-Zeitung © Nordwest-Zeitung Foto: Johannes Bichmann
Niemand könne derzeit noch ernsthaft auf den russischen Staat als Partner bauen, meint NWZ-Chefredakteur Ulrich Schönborn.

Parallel zur erfolgreichen militärischen Gegenoffensive der ukrainischen Armee gab es leider keine diplomatische Offensive zur Beendigung der Kampfhandlungen. Beide Kriegsparteien schaffen Fakten. Die Ukraine will ihr gesamtes Staatsterritorium inklusive der Krim zurückerobern. Aggressor Russland reagiert mit Annexionen ukrainischer Gebiete. Das Momentum liegt derzeit bei der Ukraine, der es eindrucksvoll gelungen ist, die als Blitzkrieg geplante russische Invasion zu vereiteln. Das ist aber noch lange kein Sieg. In der russischen Führung fordern die Falken nun ein noch härteres Zuschlagen - und werden ukrainische Angriffe auf annektierte Gebiete als Angriffe auf Russland werten.

Teilmobilisierung für einen Krieg, den es nach russischer Lesart bislang nicht gab

Bislang hatte die russische Führung mit ihrem Propaganda-Apparat alles dafür getan, im eigenen Land den Anschein von Normalität zu wahren. Mit der Teilmobilisierung und der Einberufung Hunderttausender Männer in den Kriegsdienst änderte sich das schlagartig. Denn kaum jemand in Russland will in diesen Krieg ziehen, den es nach offizieller Lesart bislang ja auch gar nicht gab. Während Putin weiter Ziele in der Ukraine unter Beschuss nimmt, hat er nun auch eine für ihn hochexplosive "Heimatfront" aufgetan. Gleichzeitig versucht er, die Verbündeten der Ukraine und damit auch Deutschland mit seinen Atom- und Energiewaffen zu verunsichern und zu destabilisieren.

Zug für Rückkehr zu russischem Gas ist längst abgefahren

Die Folgen dieser Politik bekommen wir inzwischen massiv zu spüren. Die Inflationsrate steigt auf zehn Prozent, Energie ist für viele kaum noch bezahlbar, in etlichen Unternehmen und Privathaushalten herrscht nackte Existenzangst. Die Frage, ob die vom Westen gegen Russland verhängten Sanktionen uns wirtschaftlich nicht mehr schaden als Russland, steht im Raum. Sie ist inzwischen aber ebenso gegenstandslos wie die derzeit auf Demonstrationen erhobene Forderung, die Sanktionen gegen Russland einzustellen. Selbst wenn es eine politische Mehrheit dafür gäbe: Der Zug für eine Rückkehr in alte Zeiten mit günstigem russischem Gas ist längst abgefahren. Inzwischen sind sogar die Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 wohl durch Sabotage irreparabel beschädigt worden. Und nach allem, was in den vergangenen sieben Kriegsmonaten in der Ukraine Schreckliches passiert ist, kann derzeit niemand ernsthaft auf den russischen Staat als Partner bauen - weder wirtschaftlich noch moralisch.

Energiepreisdeckel kommt hoffentlich nicht schon zu spät

Doch diese Erkenntnis hilft weder der deutschen Wirtschaft durch die Krise noch den Haushalten durch den nächsten Winter. Will man den russischen Druck aushalten, sind Durchhalte-Appelle und der Verweis auf die moralische Verpflichtung, der Ukraine zu helfen, nicht genug. Vielmehr braucht es eine politische Führung, die schnell und gezielt Notlagen abwendet, die dafür die zurzeit durch die Inflation steigenden Steuereinnahmen effektiv nutzt und alles dafür tut, um den Schaden für die Bürger möglichst gering zu halten. Dieser Prämisse müssen angesichts des Krieges, dessen Teil wir auf wirtschaftlicher Seite längst sind, auch Ideologien und parteipolitische Programme untergeordnet werden. Die vermurkste Gasumlage war ein Fiasko. Der nun nach quälenden Wochen der Unsicherheit beschlossene Energiepreisdeckel kommt hoffentlich nicht schon zu spät.

Gefragt sind Konzepte für mittel- und langfristige Energiesicherheit

Parallel zur kurzfristigen und kompromissbereiten Absicherung der Energieversorgung - zum Beispiel mit einer Laufzeitverlängerung für alle drei noch arbeitenden deutschen Atomkraftwerke - brauchen wir Konzepte für eine mittel- und langfristige Energiesicherheit, die das Ziel der Klimaneutralität in Einklang bringt mit möglichst großer Energie-Autonomie und internationaler Konkurrenzfähigkeit.

Krise als Katalysator für Energiewende?

Die aktuelle Krise kann sogar ein Katalysator für die Energiewende sein - wenn diese Entwicklung pragmatisch und nicht dogmatisch vorangetrieben wird. Dafür ist Investitionskraft erforderlich - zum Beispiel für zukunftsweisende Wasserstoff-Projekte. Der Staat hat die Aufgabe, entsprechende Rahmenbedingungen schaffen. Wenn wir uns von russischem Gas lösen wollen, dann müssen wir uns auch lösen von deutscher Bürokratie, Regulierungswahn, ideologischen Dogmen und parteipolitischem Hickhack, aber auch von lähmender Klagefreude und der hierzulande weit verbreiteten Angst vor Veränderungen. 

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin/des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 02.10.2022 | 09:25 Uhr

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