Tanja Koktash (links) singt Weihnachtslieder im Chor. © NDR Foto: Sabine Hausherr

Tanja Koktash: Das zweite Weihnachtsfest fern der Heimat

Stand: 23.12.2023 08:00 Uhr

Tanja Koktash lebt nahe Mariupol, bis sie vor dem Krieg fliehen muss. Die 63-Jährige kommt mit ihrer Familie nach Helmstedt in Niedersachsen. Die Reporterinnen Sabine Hausherr und Lydia Callies begleiten die Ukrainerin für ein NDR Info Langzeitprojekt in Norddeutschland mit einem Blog.


21.12.2023

Blog #16 - Das zweite Weihnachten fern der Heimat

"Heute ist ein guter Tag", freut sich Tanja Koktash. Sie hat etwas zu tun: einen Auftritt mit ihrem Chor in der Kindertagesstätte "Krümelkiste" in Bahrdorf bei Wolfsburg. Fünf Frauen singen ukrainische Stücke und deutsche Weihnachtslieder.

Singen - das ist es, was der ehemaligen Musiklehrerin derzeit am meisten Freude macht und sie von den schlechten Nachrichten aus ihrer Heimat ablenkt. "Jeden Tag schlagen Raketen ein, jeden Tag sterben Menschen. Ich mache mir wirklich Sorgen um unsere Verwandten und Freunde, die dort geblieben sind. Ich rufe sie jeden Tag an, aber oft gibt es dort keinen Strom, das Internet fällt aus. Meine Heimat Mariupol steht jetzt unter russischer Besatzung", erzählt die Ukrainerin.

Deutschland erscheint ihr kriegsmüde

Tanja Koktash (links) singt Weihnachtslieder im Chor. © NDR Foto: Sabine Hausherr
Tanja Koktash (links) singt mit ihrem Chor deutsche und ukrainische Lieder.

Dass sie so lange in Deutschland bleiben würde, hätte Tanja Koktash nicht erwartet, als sie im März 2022 aus ihrer Heimat fliehen musste. Mittlerweile befürchtet sie, dass Deutschland kriegsmüde werde. "Deutschland unterstützt uns sehr, aber irgendwie haben sich alle an den Krieg gewöhnt und er ist irgendwie in den Hintergrund getreten", schildert sie ihre Beobachtungen.

Vor wenigen Wochen ist ihre erwachsene Tochter Iryna mit ihren Kindern nach Wien gezogen, weil ihr Mann beruflich öfter in Österreich zu tun hat. Seitdem fühlt sich Tanja Koktash öfter einsam: "Ich vermisse sie sehr, aber ich freue mich, dass ich jetzt an Weihnachten mit meinem Mann Viktor hinfahren werde. Ich freue mich vor allem auf meine drei Enkelkinder, auf die ich häufig aufgepasst habe."

Ukrainerin: "Eigentlich bin ich glücklich hier"

Ein Umzug nach Wien komme aber für sie nicht in Frage, sagt Koktash: "Solange meine Nichte Larissa noch in der Nähe ist, geht es mir gut. Wir haben hier eine kleine schnuckelige Wohnung, haben auch schon ein paar Freunde gefunden und ich habe vor einigen Monaten diesen Chor aufgebaut; eigentlich bin ich hier glücklich."

In diesem Jahr wird Tanja Koktash wie viele andere Ukrainer Weihnachten am 24. und 25. Dezember feiern. Russisch-Orthodoxe Gläubige begehen das Fest eigentlich erst am 6. und 7. Januar. Sie wolle sich aber den Traditionen hierzulande aber anpassen, sagt Tanja Koktash. Trotz allem bleibt aber ihr größter Wunsch: Dass sie das nächste Weihnachtsfest endlich wieder zu Hause mit ihrer ganzen Familie feiern kann.

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20.06.2023

Blog #15 - Wieder Musik im Leben

Tanja Koktash steht wippend am Keyboard und gibt die Tonart vor. Sie wirkt sehr konzentriert, fast ein bisschen streng. In der Ukraine hat die 63-Jährige als Musiklehrerin gearbeitet. Jetzt, 14 Monate nach der Flucht, leitet sie einen Chor in Niedersachsen. Ein- bis zweimal in der Woche trifft Koktash sich mit bis zu acht Frauen in der Oskar-Kämmer-Schule in Helmstedt, um gemeinsam mit ihnen zu singen.

Tanja Koktash bei einer Probe des von ihr geleiteten Chors in Helmstedt (Niedersachsen). © NDR/Sabine Hausherr Foto: Sabine Hausherr
AUDIO: Ein Chor für die Ukrainerin Tanja Koktash (5 Min)

Noch vor Kurzem wäre das undenkbar gewesen. Bisher hatte Koktash damit gerechnet, bald in die Ukraine zurückzukehren, sah ihre neue Heimat Helmstedt nur als kurzes Intermezzo - langfristige Hobbys machten für sie keinen Sinn. Aber das scheint jetzt anders zu sein, wohl auch wegen der anhaltend angespannten Lage in der Ukraine.

"Als ich das Angebot bekommen habe, diesen Chor zu leiten, war ich erst überrascht", berichtet Tanja Koktash. "Ich dachte, ich hätte vergessen, wie man Musik unterrichtet. Aber jetzt bin ich wie ein Fisch im Wasser. Ich liebe es!"

Tanja Koktash bei einer Probe des von ihr geleiteten Chors in Helmstedt (Niedersachsen) © NDR/Sabine Hausherr Foto: Sabine Hausherr
Tanja Koktash bei einer Probe des von ihr geleiteten Chors in Helmstedt.

Die Chor-Sängerinnen kommen aus der Ukraine und aus Kasachstan. Während sie die traditionellen Volkslieder singen, wirken die Frauen wie in einer anderen Welt. Manche singen mit geschlossenen Augen. "Wir singen ukrainische Songs. Meist geht es in ihnen um Liebe. Wir singen mit zwei oder vier Stimmen. Die ukrainischen Lieder sind sehr kämpferisch", erzählt die Chorleiterin.

Ukrainerin in Niedersachsen: Nähe zur Familie und neue Freunde

Auch Tanja Koktashs 42-jährige Tochter Iryna singt in dem Chor mit. Sie lebte früher in Kiew, 800 Kilometer Distanz lagen vor dem Krieg zwischen Mutter und Tochter. Jetzt leben sie fast Tür an Tür in Helmstedt, sehen sich jeden Tag. Tanja Koktash ist als Oma fest für die Kinderbetreuung eingeplant.

"Ich habe hier schon einiges zu tun. Ich hole jeden Tag meine vierjährige Enkelin Zoe ab, mache ihr Mittagessen, ich verbringe viel Zeit mit ihr", berichtet sie aus ihrem Alltag. "Am Anfang habe ich mich in Deutschland schon alleine gefühlt, aber jetzt kenne ich doch schon einige Leute." Zum Beispiel ihre Nachbarn, die wie sie aus dem mittlerweile stark zerstörten Mariupol stammen. Gemeinsam haben sie schon gekocht.

Leben nach der Flucht: Der Schmerz bleibt

Doch bei all den schönen Dingen, die Tanja Koktash mittlerweile erlebt, hat sie auch traurige Momente und immer wieder starkes Heimweh. Wenn die Trauer zu groß wird, nimmt sie Medikamente ein. "Die Gefühle sind immer noch dieselben. Mir tut das alles so leid, was in der Ukraine passiert. Aber mein Mann und ich haben immer noch die Hoffnung, dass wir bald wieder nach Hause können. Und die Musik macht mich einfach glücklich."

Deshalb will sie sich jetzt ganz auf ihren neuen Chor konzentrieren und plant schon die ersten Auftritte.


24.02.2023

Blog #14 - Geburtstag zum Jahrestag des Ukraine-Krieges

Am 23. Februar 2022 feierte Tanja Koktash in Sartana, im ukrainischen Donezk, Geburtstag. Nicht ahnend, dass sich ihr Leben am nächsten Tag auf dramatische Weise ändern würde. Denn am nächsten Tag, heute vor einem Jahr, greift Russland die Ukraine an. Die 63-Jährige erinnert sich: "Es war ein ganz normaler Tag. Wir haben nichts geahnt! Meine Kinder kamen vorbei, haben mir Blumen gebracht. Auch mein Mann hatte einen großen Strauß dabei. Eigentlich wollte ich einige Tage später groß feiern. Das Restaurant war schon reserviert. Doch dann kam alles anders..."

Tanja und Iryna Koktash vor dem Rathaus in der Altstadt von Helmstedt. © NDR/Sabine Hausherr Foto: Sabine Hausherr
AUDIO: Tanja Koktash: Geburtstag direkt vor Kriegsausbruch (5 Min)
Tanja und Iryna Koktash vor dem Rathaus in der Altstadt von Helmstedt. © NDR/Sabine Hausherr Foto: Sabine Hausherr
Tanja und Iryna Koktash vor dem Rathaus in der Altstadt von Helmstedt. Beide fühlen sich wohl hier und sehnen sich doch nach ihrer Heimat.

Seit Beginn des Krieges sind mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Zunächst wollten Tanja Koktash und ihr Mann in ihrer Heimat bleiben, doch als die Raketen immer wieder in der Nähe ihres Hauses einschlugen, flohen sie Richtung Westen. Ostern kamen sie nach Deutschland, fast ein Jahr lang leben sie nun schon im niedersächsischen Helmstedt.

Die Ukrainerin: "Ich habe hier in Helmstedt sehr viele nette Menschen kennen gelernt, die uns geholfen haben, dafür bin ich sehr dankbar. Ich bin nicht mehr ganz so traurig, wie am Anfang. Aber klar, jetzt an unseren Geburtstagen natürlich schon." Denn nicht nur Tanja, auch ihre Tochter Iryna (42) hat in diesen Tagen Geburtstag. Beiden ist nicht nach Feiern zu Mute.

"Das bricht mir das Herz"

Tanja und Iryna Koktash mit NDR Reporterin Sabine Hausherr (rechts). © NDR/Sabine Hausherr Foto: Sabine Hausherr
Seit sie nach Deutschland geflohen sind, trifft NDR Reporterin Sabine Hausherr (rechts) die Ukrainerinnen Tanja und Iryna Koktash.

Iryna Koktash: "Das Wichtigste ist mir, dass meine drei Kinder in Sicherheit sind. Sie dürfen hier ganz normal zur Schule gehen, sie lernen Deutsch, eine neue Fremdsprache. Das ist toll. Den Kindern, die noch in der Ukraine sind, geht es schlecht. Aber ich muss auch sagen: Meine Kinder vermissen ihr altes Leben, ihre Freunde. Mein Sohn weint deswegen oft - das bricht mir das Herz."

Der Krieg scheint auch Tanja Koktashs Herz gebrochen zu haben: Sie leidet seit Wochen an stechenden Schmerzen in der Brust. Die Untersuchung im Krankenhaus bringt keine Klarheit über die Ursache. Ihre Familie macht sich Sorgen um sie. Sie selbst macht sich mehr Sorgen um die Ukraine. "Ich glaube, dieses Jahr wird sehr grausam werden", sagt sie. "Wir sehen ja, wie unsere Soldaten sterben, wenn sie keine Waffen haben, keine Ausrüstung, keine Munition. Ach, es ist schrecklich." Mindestens zehn Kollegen, mit denen sie bei einer Bank gearbeitet habe, seien im Krieg getötet worden, erzählt Iryna Koktash.

Tanja und Iryna Koktash schütteln die Schrecken des Krieges für einen Moment ab. Gleich kommt die Enkelin aus dem Kindergarten, die beiden Großen aus der Schule. Die Ukrainerinnen im Norden müssen irgendwie weitermachen; weiter warten, bis der Krieg endlich ein Ende findet und sie wieder zurückkehren können.


09.12.2022

Blog #13 - Adventszeit fernab der Heimat

Tanja und Iryna Koktash schmücken den Weihnachtsbaum. © Sabine Hausherr / NDR
Iryna Koktash musste ihre Mutter Tanja überreden, einen Weihnachtsbaum aufzustellen, den sie nun gemeinsam schmücken.

Tanja Koktash blickt derzeit ihrem ersten Weihnachtsfest entgegen, das sie nicht in ihrer Heimat verbringen kann. Die sonst so besinnliche Adventszeit stimmt die 62-Jährige in diesem Jahr eher traurig.

"Wir sind nicht mit unseren Freunden zusammen wie sonst und ich bin nicht in meinem Haus. Sonst haben wir uns getroffen, gesungen, getanzt – hatten einfach viel Spaß zusammen. Das war immer schön", erinnert sich Tanja an die vergangenen Weihnachtsfeste in der Ukraine.

Auf ihre engste Familie muss Tanja in diesem Jahr aber nicht verzichten. Ihr Mann Victor, Tochter Iryna und deren drei Kinder wohnen ebenfalls mittlerweile in Norddeutschland, nachdem sie ihr Heimatland wegen des Kriegs verlassen mussten. Nun versuchen sie mit dem Schmücken des Weihnachtsbaumes in Tanjas Wohnung im niedersächsischen Helmstedt für ein wenig festliche Stimmung zu sorgen. Damit der Baum nun überhaupt in der Wohnung steht, habe es viel Überredungskunst gebraucht, berichtet Tanjas Tochter Iryna.

Die Ukrainerin Tanja Koktash schmückt zusammen mit ihrer Tochter Iryna den Tannenbaum. © Sabine Hausherr / NDR
AUDIO: Tanja Koktash: Adventszeit fernab der Heimat (5 Min)

Besorgniserregende Nachrichten aus der Heimat

Die Enkelin der Ukrainerin Tanja Koktash hilft beim Schmücken des Tannenbaums. © Sabine Hausherr / NDR
Enkelin Zoe hilft beim Schmücken des Tannenbaums.

Über allen Vorbereitungen schweben nach wie vor aber immer die Nachrichten aus ihrer Heimat. "Ich habe eben gelesen, dass es wieder neue Angriffe gegeben hat und wieder Menschen getötet worden sind. Das ist natürlich traurig und sehr beängstigend. Umso mehr sorge ich mich um die Verwandten, die gerade in der Ukraine sind", sagt Tanja Koktash. Auch ihre Enkelin Zoe vermisst ihre Heimat und fragt immer wieder, wann der Krieg denn wieder vorbei ist.

Nicht nur ihrer Enkeltochter sorgen die funkelnden Lichter des Tannenbaums und die kleine Vorfreude auf das Weihnachtsfest zumindest ein wenig für Aufmunterung. Auch Tanja kann zumindest ein paar schöne Dinge in der Vorweihnachtszeit in Deutschland für sich entdecken, besonders die Weihnachtsmärkte gefallen ihr. "Wir waren in Braunschweig auf dem Weihnachtsmarkt und haben dort viele verschiedene Gericht probiert. Das hat mich ein bisschen in Weihnachtsstimmung gebracht und mich aufgemuntert."


15.11.2022

Blog #12 - Lang ersehntes Wiedersehen mit Sohn Sergej

Seit Ostern hat Tanja Koktash ihren Sohn Sergej nicht mehr gesehen. Kurz nachdem Russland den Angriffskrieg in ihrem Heimatland gestartet hatte, flüchtete sie nach Norddeutschland. Nach sieben Monaten gibt es nun das langersehnte Wiedersehen mit ihrem Sohn und dessen Frau Natalia. Tanja ist von ihren Gefühlen bei der Ankunft überwältigt: "Ich freue mich so, dass ich meinen Sohn wiedersehe, und wir zusammen sind. Ich hoffe so, dass der Krieg bald zu Ende ist, und wir endlich für immer zusammen sein können."

Für den Kurzbesuch bei seinen Eltern nahm Sergej zusammen mit seiner Frau eine lange Reise auf sich. Mehrere Tage waren sie im Auto unterwegs, um in die niedersächsische Kleinstadt Helmstedt zu kommen. Bereits beim Zwischenstopp in Polen war eines ganz besonders: "Ich bin um 5 Uhr morgens wach geworden, und es war einfach ruhig! Es gingen keine Sirenen. Und auch hier in Helmstedt ist alles so ruhig. Es ist schön zu wissen, dass es noch solche friedlichen Orte auf der Welt gibt", sagt Sergej.

Mit Hilfsorganisation Bedürftige unterstützen

Die Ukrainerin Tanja Koktash sitzt zusammen mit ihrem Sohn Sergej und seiner Frau Natalia auf einem Sofa. © Sabine Hausherr / NDR
Tanja Koktash sitzt zusammen mit ihrem Sohn Sergej und dessen Frau Natalia auf einem Sofa.

Der 36-Jährige kämpft zwar nicht in der Armee, aber auch er unterstützt sein Land, wo er nur kann. Vor Beginn des Krieges leitete Sergej eine eigene Firma, kurz nach dem Einmarsch russischer Truppen in seinem Heimatland gründet er die Hilfsorganisation "Future Ukraine". Er und seine Mitstreiter verpacken Lebensmittel-Boxen mit Monatsrationen und schicken diese vor allem an ältere hilfsbedürftige Menschen im ganzen Land. Zudem gibt seine Organisation Kurse für Ukrainer, damit sie lernen, ihre Wunden selbst zu versorgen. Freiwillige Helfer, die andere humanitär unterstützen, seien genauso angesehen in der Ukraine, wie diejenigen, die direkt an der Front kämpften, sagt Sergej.

In Kiew sei die Situation derzeit sehr schwierig: Hunderttausende Wohnungen seien immer wieder ohne Wasser, Strom und Heizung, erzählt Sergej seiner Mutter, während diese ihm sein Leibgericht serviert: Tschi-Buriggi, mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen. Für zwei Tage kann er nun Kraft tanken, bevor es weiter nach Griechenland geht. Seine Ausreisegenehmigung hat er nur bekommen, um dort weitere medizinische Spenden zu organisieren.


03.11.2022

Blog #11 - Tochter erlebt bei Heimatbesuch Angriffe in Kiew

Tanja Koktash beim  Videotelefonat mit ihrer Tochter Iryna, die gerade in Kiew ist. © NDR Foto: Lydia Callies
Tanja Koktash beim Videotelefonat mit ihrer Tochter Iryna, die gerade in Kiew ist.

Die russische Armee greift derzeit gezielt die Energie-Infrastruktur in der Ukraine an. Dabei wurden nach ukrainischen Angaben bislang rund ein Drittel der Elektrizitätswerke im Land zerstört. Stromausfälle gehören zur Tagesordnung. Anfang der Woche brach in Kiew nach einem Raketenangriff zeitweise auch die Wasserversorgung zusammen.

In Kiew befindet sich gerade auch die Ukrainerin Iryna Koktash, die wir seit April hier bei NDR Info begleiten. Mit ihrer Mutter Tanja Koktash ist sie im Frühling aus der Ukraine nach Helmstedt in Niedersachsen geflohen. Jetzt ist sie für ein paar Tage in ihre Wohnung nach Kiew zurückgekehrt, um nach dem Rechten zu sehen. Wir sind bei einem Telefonat dabei.

Ukrainerin von Wasser- und Stromversorgung abgeschnitten

Tanja Koktash: "Wie geht es dir? Wo seid ihr untergekommen?" Iryna Koktash: "Ehrlich gesagt, wir haben nirgendwo eine Zuflucht hier im Haus. Wir haben hier keinen Keller. Deswegen haben wir uns im Badezimmer versteckt. Das hat keine Fenster und da haben wir gewartet und Angst gehabt."

In Folge der Angriffe waren Anfang der Woche zeitweise 250.000 Wohnungen in Kiew ohne Strom. Fast jeder zweite Haushalt hatte keinen Zugang zu fließendem Wasser. Auch Iryna war betroffen. Sie berichtet: "Gestern war ein harter Tag, weil es nach dem Beschuss kein Wasser und keinen Strom gab. Ohne Internet sind wir komplett von der Welt abgeschnitten."

Rückkehr in die Ukraine derzeit illusorisch

Ihr Plan, mit ihrer Familie Ende des Jahres wieder ganz in Kiew zu leben, sei für sie nach den Erlebnissen in dieser Woche illusorisch geworden. Iryna Koktash: "Es ist zu gefährlich in Kiew mit Kindern zu leben, deswegen werden wir nicht vor Kriegsende zurückkommen - oder zumindest, bis es mehr oder weniger sicher ist für eine lange Zeit."

Tanja Koktash beim  Videotelefonat mit ihrer Tochter Iryna, die gerade in Kiew ist. © NDR Foto: Lydia Callies
AUDIO: Tanja Koktash: Tochter erlebt Angriffe auf Kiews Infrastruktur (3 Min)

Irynas Handy ist bald leer, sagt sie. Sie konnte es am Nachmittag wegen des Stromausfalls nicht aufladen. Das Gespräch bricht abrupt ab. Ihre Mutter in Helmstedt macht sich Sorgen. Am Sonnabend plant Iryna wieder zurück in Helmstedt bei ihren Kindern und ihren Eltern zu sein.


28.10.2022

Blog #10 - Einkaufen mit einer Übersetzungs-App

Tanja Koktash am Gemüseregal in einem Supermarkt. © NDR Foto: Lydia Callies
Tanja Koktash am Gemüseregal in einem Supermarkt.

Seit rund einem halben Jahr lebt die Ukrainerin Tanja Koktash nun in Niedersachsen. Mittlerweile wohnt sie in einer eigenen Wohnung in Helmstedts Innenstadt. Sie kommt nach eigenen Angaben immer besser im Alltag zurecht. Auch das Einkaufen klappt - trotz fehlender Sprachkenntnisse - gut.

Tanja Koktash ist heute mit ihrer Tochter Iryna einkaufen. Während Iryna den Wagen schiebt, sucht Tanja zwischen Milch, Joghurt und Käse einen Becher Schmand.

Tanja Koktash am Gemüseregal in einem Supermarkt. © NDR Foto: Lydia Callies
AUDIO: Ukrainerinnen im Norden: Einkaufen für Borschtsch (4 Min)
Eine App auf dem Handy von Tanja Koktash übersetzt die Schrift auf den Supermarktprodukten ins Ukrainische. © NDR Foto: Lydia Callies
Eine App übersetzt die Schrift auf den Produkten ins Ukrainische.

Die deutsche Sprache ist ihr immer noch fremd, aber sie behilft sie sich mit kleinen Tricks: "Einmal haben wir Schmand gekauft und da war der Becher rot. Deshalb suche ich jetzt nach einer roten Verpackung. Aber die sehe ich jetzt nicht." Doch die Ukrainerin weiß sich zu helfen: Sie nutzt eine Übersetzungs-App auf ihrem Smartphone.

Tanja Koktash: "Ich habe mich daran gewöhnt, dass ich manchmal länger suchen muss. Ich benutze einen Übersetzer. Die App kann mit der Kamera das Produkt scannen und mir die Schrift darauf übersetzen. Und wenn ich eine Sache gar nicht finde, frage ich das Personal. Auch mit Hilfe der App."

Alles für das ukrainische Traditionsgericht Borschtsch

Heute kauft sie für Borschtsch ein. Eine ukrainische Suppe, die traditionell mit Rindfleisch, Roter Beete und Weißkohl zubereitet wird. Tanja Koktash will ihren Enkelkindern damit eine Freude bereiten.

Fertig! Die traditionell ukrainsche Suppe Borschtsch. © NDR Foto: Lydia Callies
Fertig! Die traditionell ukrainsche Suppe Borschtsch.

Die 62-Jährige schaut genau auf die Preise, geht mehrmals die meterlangen Kühlregale auf und ab. "Wir nehmen normalerweise Rind, aber heute nehmen wir Schweinefleisch, weil das günstiger ist. Das verdirbt den Geschmack vom Borschtsch nicht. Wichtig ist nur, dass das Fleisch einen Knochen hat für die Bouillon. Im Prinzip gibt es hier alles für unsere traditionellen Gerichte", sagt sie.

An der Kasse nennt die Kassiererin den Preis für den Einkauf und fragt nach einer Rabattkarte. Tanja Koktash lächelt und sagte "Dankeschön" - auf Deutsch.


29.09.2022

Blog #9 - Die Folgen von Scheinreferendum und Teilmobilmachung

Ihr Handy legt Tanja Koktash fast gar nicht mehr zur Seite. Sie lässt mittels einer App Texte von deutschen Nachrichtenseiten übersetzen, verfolgt verschiedene Newskanäle aus ihrer Heimat und bekommt aktuelle Updates von der ukrainischen Armee. Dass bei den Scheinreferenden im Osten der Ukraine angeblich weit mehr als 90 Prozent zugestimmt haben sollen, glaubt sie nicht.

Tanja Koktash und ihre Tochter Iryna. © NDR Foto: Sabine Hausherr
AUDIO: Ukrainerinnen im Norden: Tanja Koktash besorgt über aktuelle Lage (5 Min)
Tanja Koktash mit NDR Reporterin Sabine Hausherr. © NDR Foto: Sabine Hausherr
Tanja Koktash im Gespräch mit NDR Reporterin Sabine Hausherr.

"Ich weiß, dass in Mariupol und meinem Heimatdorf Sartana das Referendum stattgefunden hat. Im Allgemeinen sind die Leute aber gar nicht hingegangen. Meine Freundin zum Beispiel, die hat sich ihren Sohn geschnappt und ist mit ihm nach Griechenland geflohen. Die veröffentlichten Zahlen sind einfach aus der Luft gegriffen", ist sich die Ukrainerin sicher. Möglicherweise habe der ein oder andere aber auch unter Zwang zugestimmt, räumt sie ein. Die Menschen in ihrem Ort seien müde vom Krieg und wollen einfach nur, dass dieser bald endet.

Geflohene sicher: Die Ukraine wird niemals aufgeben

Was, wenn Russland sich nach dem Referendum nun diese Gebiete wie angekündigt einverleibt? "Das werden wir niemals akzeptieren. Diese Erpressung! Für uns ist es selbstverständlich, dass wir unsere Gebiete wieder befreien und zurückholen müssen. Das ukrainische Volk wird weiterkämpfen, und zwar bis zum Schluss!" sagt sie leidenschaftlich. Immer wieder spricht die 62-Jährige von der starken ukrainischen Armee und dem Mut der Soldaten. Das mache ihr Hoffnung.

Tanja Koktash und ihre Tochter Iryna. © NDR Foto: Sabine Hausherr
Tanja Koktash und ihre Tochter Iryna.

Die Auswirkungen der Teilmobilmachung der Reservisten der russischen Armee sieht Koktash kritisch. Werden in ihrer Nachbarschaft in Helmstedt vielleicht bald auch russische Geflüchtete leben? "Wenn jetzt ganz viele Russen ankommen, befürchte ich, dass sie einfach nur ihr Leben retten wollen und deshalb geflohen sind. Dass sie aber weiter hinter Putin stehen, den Krieg in Wahrheit gar nicht ablehnen und ihn stattdessen von hier aus unterstützen", meint sie.

Russland Atomwaffen-Drohung ist schwer auszuhalten

Für Tanja Koktash ist die nukleare Bedrohung, die der Kreml immer wieder ausspricht, und die ihr Land auslöschen könnte, nur schwer zu ertragen. Sie fordert: "Die Weltgemeinschaft muss jetzt endlich Klartext mit Putin reden. Sie müssen ihm ganz konkret sagen, was genau passieren wird, wenn er diesen Schritt geht. Putin hat keine Prinzipien, hält sich an keine Regeln."

Tanja Koktash hatte vor wenigen Wochen noch mit dem Gedanken gespielt, zurück in die Ukraine zu gehen, sich eine Wohnung im relativ ruhigen Kiew zu suchen. Diese Pläne hat sie in der vergangenen Woche wieder verworfen. Sie wird weiter in Norddeutschland bleiben.


12.08.2022

Blog #8 - Anrufe in die Heimat

Tanja Koktash und ihre Tochter Iryna telefonieren mit Angehörigen in der Ukraine. © NDR / Sabine Hausherr
Tanja Koktash und ihre Tochter Iryna telefonieren mit Angehörigen in der Ukraine.

Die Nachrichten aus der Heimat holen Tanja Koktash immer wieder mit voller Wucht ein. Ihre Tochter Iryna zeigt ihr Fotos einer ukrainischen Nachrichtenseite auf dem Handy: Darauf ist ein zerfetzter Kinderwagen vor einem Ärztehaus zu sehen.

Ein kleines Mädchen und ihre Mutter sollen von einem Geschoss tödlich getroffen worden sein, erzählt Iryna. Es sind diese Momente, in denen Tanja Koktash immer sofort zum Handy greift und versucht, ihre Verwandten in Mariupol zu erreichen. Diese Momente, in denen sie wissen will wissen, ob es ihnen noch gut geht.

Tanja Koktash wählt die Nummer ihrer Schwester Tamara, heute kommt sie nicht durch - die Ungewissheit bleibt. Ähnlich wie zu Beginn des Krieges in ihrem Heimatland. Zwei lange Monate hatte sie kein einziges Lebenszeichen von ihrer Cousine Mascha bekommen. Mittlerweile sei die Verbindung besser, sagt Tanja Koktash. Fast jeden Tag könne sie mit ihr sprechen, und auch heute hat sie Glück. Mascha nimmt ab: Sie berichtet von starken Magenschmerzen und dass es keinen Arzt gibt, zu dem sie gehen kann. Sie hoffe, dass die Schmerzen bald auch ohne Behandlung verschwinden.

Aufmunternde Worte fallen nicht immer leicht

Tanja Koktash sitzt wie angewurzelt auf ihrem Sofa, machtlos. Die beiden Frauen schluchzen in den Hörer. Vor dem Krieg waren sie jeden Tag zusammen, jetzt aber trennen sie rund 2.300 Kilometer: Tanja im beschaulichen Helmstedt in Sicherheit, Mascha im zerstörten Mariupol, krank und hilflos. Doch die Sorge um ihren Gesundheitszustand ist nicht das Einzige, das Mascha derzeit umtreibt. Sie habe Angst vor dem Winter, erzählt Tanja nach dem Telefongespräch mit ihr: "Im Moment ist es wohl relativ ruhig dort. Doch sie fangen nun auch an, Wintervorräte anzulegen. Weil sie nicht wissen, was noch kommt. Sie lagern jetzt Mehl ein und trockene Lebensmittel. Sie haben Angst, vor Hunger im Winter zu sterben."

Ihr fällt es schwer, das alles zusammenzufassen. Es waren einfach viel zu viele schlechte Nachrichten auf einmal. Morgen aber will sie Mascha wieder anrufen und fragen, wie es ihr geht. Sie will ihrer Cousine weiterhin gut zureden, auch wenn ihr das in diesen Tagen alles andere als leicht fällt.


24.07.2022

Blog #7 - Neue Arbeit und neuer Lebenssinn

Die Ukrainerin Tanja Koktash passt ehrenamtlich in Helmstedt auf Kinder aus ihrem Heimatland auf. © NDR / Lydia Callies
Die Ukrainerin Tanja Koktash passt ehrenamtlich in Helmstedt auf Kinder aus ihrem Heimatland auf.

Tanja Koktash möchte etwas zurückgeben: In ihrer neuen norddeutschen Heimat hat sie nach ihrer Flucht aus der Ukraine viel Hilfsbereitschaft erfahren. Nun will auch sie helfen. Jeden Donnerstag passt sie gemeinsam mit anderen Ehrenamtlichen auf ukrainische Kinder auf.

Die St.-Thomas-Kirche in Helmstedt hat seit Juni ihren Gemeindesaal dafür zur Verfügung gestellt. Während die Mütter einen Deutschkurs besuchen, können die Kinder dort spielen. "Es tut mir gut. Es ist zwar nur einmal die Woche, aber ich komme hierhin und habe die Möglichkeit, mit den Kindern zu kommunizieren. Es lenkt mich von allen Problemen ab. Das gefällt mir", sagt Tanja Koktash. In der Ukraine war sie als Musiklehrerin tätig.

An diesem Vormittag sind es sieben Kinder, die sie zusammen mit einer weiteren Ehrenamtlichen betreut. Alle zusammen singen "Alle meine Entchen" auf Russisch, die Sprache mit der Tanja Koktash in der Ukraine aufgewachsen ist. Die Arbeit lenkt sie zumindest ein wenig von der Flucht, den Kriegserlebnissen und ihrer Unsicherheit ab. Noch immer sei die Gesamtsituation schwer zu ertragen, aber sie versuche, sich so gut es geht in der neuen Heimat in Norddeutschland einzuleben, sagt sie. Ähnlich geht es wohl auch den Kindern, die hier betreut werden: "Mir gefällt es hier nicht so, in der Ukraine war es immer noch besser. Weil die Ukraine meine Heimat ist. Da ist mein Herz", sagt die fünfjährige Milana.

Tanja Koktash will auch nach den Ferien weitermachen

Die Betreuung geht noch bis Ende Juli, dann endet der Sprachkurs der Mütter. Die ukrainischen Kinder haben alle einen Kindergartenplatz bekommen oder gehen nach den Ferien in die Schule. Tanja Koktasch hofft, dass sie auch zukünftig mit Kindern arbeiten kann. "Ich weiß nicht wie lange wir hier in Deutschland bleiben werden. Natürlich wollen wir zurück in die Ukraine. Aber solange wir hier sind, komme ich gerne einmal oder auch mehrmals die Woche her. Ich würde das auch gerne weitermachen, weil es meine Leidenschaft ist, einen anderen Job kann ich mir nicht vorstellen."

Dann steht das nächste Lied an: Zusammen singen sie ein ukrainisches Volkslied, das sich in ihrer Heimat zu einer Art Überlebenshymne entwickelt hat. Alle Kinder können es auswendig. Tanja kommen dabei die Tränen.   


04.07.2022

Blog #6 - Einzug in die neue Wohnung

Tanja Koktash und ihr Mann Viktor hängen in ihrer neuen Wohnung Bilder auf. © Sabine Hausherr / NDR Foto: Sabine Hausherr
Tanja Koktash und ihr Mann Viktor hängen in ihrer neuen Wohnung Bilder auf.

Tanja Koktash und ihre Familie war rund um die Osterzeit aus Sartana in der Nähe von Mariupol aus der Ukraine geflüchtet. Bis vor wenigen Tagen wohnte sie zusammen mit ihrem Mann Viktor noch bei ihrer Nichte im Gästezimmer. Nun haben die beiden eine eigene Wohnung in Helmstedt in Niedersachsen gefunden, ganz in der Nähe ihrer Tochter und ihren drei Enkelkindern.

Seit nicht einmal zwei Wochen wohnen die beiden in ihrer neuen Wohnung in Helmstedt, und schon jetzt ist sie fast komplett eingerichtet. Fast alles haben sie im Internet oder auf der Straße gefunden: Die holzfarbene Küche mit Dunstabzugshaube ist aus Braunschweig, der Kleiderschrank aus Magdeburg und das Bett aus Helmstedt. "Die Stadt ist wie eine Wundertüte. Man geht hier in Deutschland auf die Straße und findet einfach alles. Die Leute stellen alles raus, was sie nicht mehr brauchen. Die meisten Sachen, die ich jetzt in meiner Wohnung habe, habe ich irgendwo gefunden", sagt Tanja Koktash.

Zum ersten Mal seit wir die 62-Jährige besuchen, wirkt sie nun glücklich. Sie lacht, macht Späße und ist zuversichtlicher als sonst. Sie fühlt sich wohl in ihrem kleinen Mehrfamilienhaus, umgeben von viel Grün, nicht weit von der Helmstedter Innenstadt entfernt. 56 Quadratmeter nur für sie und ihren Mann. Das ist natürlich nicht dasselbe wie ihr großes Haus mit gepflegten Blumenbeeten in der Ukraine, aber wenigstens ist alles ordentlich hier.

Die Rückkehr zu einem "normalen" Leben fällt schwer

Tanja Koktash und ihr Mann Viktor richten ihre neue Wohnung Bilder ein. © Sabine Hausherr / NDR
Tanja Koktash und ihr Mann Viktor richten ihre neue Wohnung Bilder ein.

Zum Innehalten hatte sie in den vergangenen zwei Wochen nur wenig Zeit und das hat ihr offenbar gut getan. Nur, wenn sie zur Ruhe kommt, wird sie wieder nachdenklich. "Es ist ein seltsames Gefühl, als wenn ich in einem Märchen oder einer anderen neuen Realität lebe. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich lebe jetzt hier und versuche irgendwie zum normalen Leben zurückzukehren. Nachdem wir alles verloren haben und unser Haus in der Ukraine von Plünderern ausgeräumt wurde und ich viele Dinge verloren habe, weiß ich: Man muss jetzt leben, und sich nichts für später aufheben", sagt Tanja Koktash.

Ohne ihre Verwandten, die nun ebenfalls in Niedersachsen wohnen, hätte sie den Umzug und das schnelle Einrichten der neuen Wohnung nicht bewältigt. Während sie das alles erzählt, muss sie wieder einmal mit den Tränen kämpfen. Doch gleich darauf fasst sie sich wieder, erzählt von ihrem neuen Job. Einmal in der Woche passt Koktash ehrenamtlich in der örtlichen Gemeinde in Helmstedt auf ukrainische Kinder auf, während deren Eltern im Deutschkurs sitzen. "Ich gehe jetzt quasi zur Arbeit, zu meiner Lieblingsarbeit. Ich arbeite mit Kindern. Es sind immer so sieben bis acht Kinder da, das jüngste ist zwei Jahre alt, der älteste ist sechs. Das ist das, wo ich helfen und etwas zurückgeben kann, nachdem mir hier überall geholfen wurde", sagt Tanja Koktash.


15.06.2022

Blog #5 - Anfreunden mit der neuen Heimat

Tanja Koktash schaut auf ihrem Handy ein Video von einem Chor-Konzert in Braunschweig in Braunschweig an. © NDR Foto: Lydia Callies
Tanja Koktash schaut sich zusammen mit ihrer Tochter Iryna auf ihrem Handy ein Video von einem Chor-Konzert in Braunschweig an.

Seit mehr als zwei Monaten wohnt Tanja Koktash nun zusammen mit ihrer Familie in der Nähe von Helmstedt in Niedersachsen. Der Umzug in eine eigene Wohnung steht kurz bevor und so langsam scheint es, dass die 62-Jährige auch die schönen Seiten ihres Zufluchtsortes genießen kann. Auf ihrem Handy läuft ein Video, das sie einen Tag zuvor von einem Chor in Braunschweig gemacht hat. Sie ist immer noch ganz beseelt von dem Konzert. Es war das erste für die frühere Musiklehrerin seit Beginn des Krieges in der Ukraine.

Zu Christi Himmelfahrt hatte sie zusammen mit allen Familienmitgliedern, die inzwischen in Norddeutschland leben, einen Städtetrip unternommen. Mit ihrem Mann, ihrer Tochter und den drei Enkeln sowie den Eltern ihres Schwiegersohns ging es nach Bayern. Nürnberg, München, Oberammergau und Garmisch-Partenkirchen hat die Familie erkundet. Mit dem Neun-Euro-Ticket sind sie außerdem nach Berlin gefahren. Von den deutschen Städten und deren Architektur ist Tanja Koktash begeistert: "Jede Stadt ist auf ihre eigene Art schön. Manche sind sehr gemütlich, aber alle sind originell. Es gefällt mir hier sehr", sagt sie. Die Ausflüge sind eine willkommene Abwechslung für sie und ihre Familie in den schwierigen Zeiten. "Es lenkt mich von schlechten Gedanken und Erlebnissen ab. Ich hoffe, wir können noch mehr reisen und sehen, solange wir hier sind", sagt sie.

Und auch bei Wohnsituation der Familie gibt es gute Neuigkeiten: Seit mehr als zwei Monaten hat sie zusammen mit ihrem Ehemann in einem kleinen Dorf im Landkreis Helmstedt bei ihrer Nichte mit im Haus gelebt. Jetzt endlich steht der Umzug in die eigene 57 Quadratmeter große Wohnung in die Innenstadt von Helmstedt an. Viel fehlt nicht mehr: ein Sofa und eine Waschmaschine sowie Kleinigkeiten wie Handtücher und Laken müssen Tanja und ihr Mann noch besorgen. "Ich bin froh, dass wir in die Nähe meiner Tochter und den Enkelkindern ziehen. Wir sind im Moment etwas weit voneinander entfernt", sagt Tanja Koktash. Dann wohnen ihre Enkelkinder in unmittelbarer Nähe und Tanja kann sie mit leckerem Essen verwöhnen. Und auch alle weiteren Gäste sind in der neuen Wohnung willkommen: "Alle haben mich hier herzlich aufgenommen, jetzt möchte ich sie im Gegenzug in unserer Wohnung empfangen."

Seelische Unterstützung und Ablenkung durch die Familie

Die künftige räumliche Nähe zu ihrer Mutter verschafft Tochter Iryna Zeit, für ihren Deutschkurs zu lernen. Zudem hofft sie, dass ihre Mama, die immer noch oft weint, ihr neues - hoffentlich vorübergehendes - Leben besser akzeptieren kann. "Es kann sein, dass es ein Jahr dauert, bis sich die Lage in der Ukraine wieder gebessert hat. Meine Mutter denkt jedoch, dass sie nächste Woche zurück in die Heimat und ihr Haus renovieren kann. Wir versuchen ihr zu sagen, dass geduldig sein muss", sagt Iryna.


18.05.2022

Blog #4 - Wohnungssuche und Zukunftsängste

Tanja Koktash mit ihrer Tochter Iryna in Helmstedt. © NDR/Lydia Callies Foto: Lydia Callies
Tanja Koktash ist mit ihrer Tochter Iryna auf der Suche nach einer Wohnung.

Tanja Koktash geht mit ihrer Tochter Iryna durch die Fußgängerzone von Helmstedt. Hier in der Innenstadt haben sie eine mögliche Wohnung für die 62-Jährige und ihren Mann Viktor gefunden. Das Paar wohnt seit der Flucht aus Mariupol vor rund einem Monat bei einer Nichte in einem benachbarten Dorf. Die ersten Eindrücke der 25.000-Einwohner-Stadt mit den vielen Fachwerkhäusern sind zwar positiv, aber Tanja Koktash ist noch sehr weit davon entfernt, sich zu Hause zu fühlen.

"Mein Leben hier ist bequem, es geht mir gut. Ich habe hier Enkelkinder, ich habe hier Verwandte, die uns helfen und wir helfen ihnen", versucht sie etwas Positives aus der Situation zu ziehen. Doch dann sagt sie niedergeschlagen: "Aber alle meine Gedanken sind in meiner Heimat. Ich hoffe, dass das alles – dieser Albtraum - so schnell wie möglich endet und wir wieder nach Hause zurückkehren können." Nach diesen Worten beginnt die Ukrainerin zu weinen.

Die Bilder in den Nachrichten aus dem zerstörten Mariupol bewegen sie sehr. Für ihre Tochter Iryna Koktash ist völlig klar, dass eine Rückkehr dorthin derzeit nicht möglich ist. Mariupol sei eine tote Stadt, sagt sie. Es gebe keine ausreichende Versorgung und sei viel zu gefährlich.

Wenn überhaupt, dann könnten ihre Eltern nach Kiew gehen, dort hat die Familie ein Apartment. Aber auch das könne nicht jetzt passieren, denn ihre Mama sei nicht in der Verfassung in die Ukraine zurückzukehren. "Ich will, dass sie ruhiger wird, weil sie sich selbst ständig nervös macht. Ich mache mir Gedanken um ihren Zustand. Manchmal muss ich zu ihr sagen: 'Hör auf zu weinen! Entspann dich und lebe!'", erzählt die Tochter der 62-Jährigen.

Tanja Koktash zeigt ein Handyfoto ihres blühenden Gartens in Sartana (Ukraine). © NDR/Lydia Callies Foto: Lydia Callies
Tanja Koktash zeigt ein Handyfoto ihres blühenden Gartens in Sartana (Ukraine).

Die Wohnung zu finden sei schwierig gewesen, berichten die Frauen. Und auch die Einrichtung ist eine Herausforderung. Mehr als 800 Menschen aus der Ukraine sind mittlerweile im Landkreis Helmstedt angekommen. Der Gebraucht-Möbelmarkt sei hier so gut wie leergefegt, erzählt Iryna Koktash. "Nun schauen wir in den näheren Städten. Zum Beispiel haben wir eine Schuhbank und einen kleinen Küchentisch in Braunschweig gefunden. Es ist ein wirkliches Problem. Wir haben nur ein begrenztes Budget und versuchen Sachen zu finden, die einerseits von guter Qualität, aber andererseits nicht so teuer sind – besser sogar kostenlos", sagt sie.

Tanja Koktash dachte bis vor kurzem noch, dass sie bald in ihre Heimat zurückkehren kann. Der Gedanke an die neue Wohnung bedrückt sie sichtlich. "Wir werden uns Mühe geben, irgendwie was aufzubauen", sagt die 62-Jährige. "So eine Art Grundausstattung. Ohne diese ganzen Kinkerlitzchen." Noch haben sie keinen Schlüssel für die Wohnung. Auch das Sozialamt muss noch zustimmen. Tanja Koktash zeigt uns Handybilder des Blumenbeets vor ihrem Haus bei Mariupol. Beim Anblick der Fotos lächelt sie - vor Heimweh.


29.04.2022

Blog #3 - Zerrissen zwischen Sicherheit und Verantwortung

Tanja und Viktor Koktash schauen gemeinsam auf ein Handy. © NDR/privat Foto: NDR/privat
Tanja und Viktor Koktash schauen gemeinsam auf sein Handy.

Tanja und Viktor Koktash sitzen auf dem Sofa und schauen auf das Display seines Handys. Der 65-jährige Ukrainer ist Betriebsrat eines großen Unternehmens in der Stahlindustrie. Unzählige Male sei er schon in dem jetzt von russischen Militärs eingekesselten Stahlwerk Azovstal in Mariupol gewesen, sagt er. "Ich gehe fest davon aus, dass auch viele, die ich kenne, in den Bunkern im Stahlwerk ausharren. Aber ich weiß es nicht genau, es gibt kein Internet und keine Telefonverbindung. Nur Leute, die es aus Mariupol hinaus geschafft haben, können mir sagen, wie die Lage derzeit ist. Und die rufen mich oft an."

Das Büro von Viktor Koktash. © NDR/privat Foto: NDR/privat
Das Gebäude in Mariupol, in dem sich das Büro von Viktor Koktash befand, ist zerstört.

Für 5.500 Mitarbeiter sei er als Betriebsrat verantwortlich, sagt Viktor Koktash. Viele von ihnen hätten alles verloren. Er will sie unterstützen und sucht von Niedersachsen aus im Internet nach neuen Wohnungen in sichereren Orten, schickt Geld, Kleidung, Lebensmittel. Doch eigentlich will er zurück, um vor Ort zu helfen. Doch Tanja will ihn nicht gehen lassen.

Zurück nach Mariupol? Nur gemeinsam

Die Ukrainerin Tanja Koktash kocht. © NDR/privat Foto: NDR/privat
Die 62-Jährige kocht Gemüsesuppe mit Hühnchen für die Enkelkinder.

Das Ehepaar ist Mitte März aus Mariupol geflohen, seitdem leben sie bei ihrer Nichte im Kreis Helmstedt. Auch ihre gemeinsame Tochter, ihr Schwiegersohn und die drei Enkelkinder sind hier. Alles hätten sie im Leben zusammen gemacht und gemeistert, 40 Jahre seien sie verheiratet, sagt Tanja Koktash und betont: "Wenn wir zurückgehen, dann werden wir gemeinsam zurückgehen. Ich gehe nur mit Viktor! Wie es auch kommen wird, wir sind unzertrennlich. Wir fahren nur zusammen nach Hause. Ich bleibe hier nicht alleine." Viktor Koktash ist in diesen Tagen zerrissen: Auf der einen Seite will er seine Frau nicht mit ins Kriegsgebiet nehmen, auf der anderen Seite seine Kollegen nicht im Stich lassen.

Ablenkung gegen Kriegsbilder im Kopf

Tanja Koktash singt zusammen mit ihrer Enkelin Zoe. © NDR/privat Foto: NDR/privat
Singen mit Enkelin Zoe.

Tanja Koktash sagt, sie müsse sich ablenken. Sonst könne sie die Kriegsbilder, die ihr immer wieder in den Kopf kämen, nicht aushalten. Also arbeitet sie im Haushalt, kümmert sich um den Garten - und die Enkelkinder. Der siebenjährige Mischa und die 13-jährige Aryna gehen hier schon zur Schule, Oma Tanja kocht ihnen das Mittagessen. In ihrer Heimat ist sie Musiklehrerin und so singt Tanja Koktash häufig mit ihrer jüngsten Enkelin Zoe (3). Heute ist es ein altes ukrainisches Volkslied, das sich in den vergangenen Wochen in ihrer Heimat zu einer Art trotziger Überlebens-Hymne entwickelt hat: Es handelt von einer typisch ukrainischen roten Blume, die den Kopf hängen lässt, aber wieder aufgerichtet werden wird. Das kleine Mädchen mit den langen blonden Locken wippt dazu im Takt, ihre Oma hält sie an den Händen… 

Tanja und Viktor Koktash haben sich darauf geeinigt, dass sie auf jeden Fall den Mai noch gemeinsam in Niedersachsen verbringen. Und sie werden sich bei der Ausländerbehörde registrieren - falls ihr Aufenthalt sich aufgrund der Kriegslage doch verlängert.


24.04.2022

Blog #2 - Ankunft in Niedersachsen

Es ist früh am Abend, als Tanja Koktash in einem kleinen Dorf im Landkreis Helmstedt aus dem Auto steigt. Fast 2.500 Kilometer ist sie gefahren, auf der Flucht vor dem Krieg in ihrer Heimat, der Ukraine. Jetzt steht die zierliche 62-Jährige auf der Straße und weint vor Freude und Erleichterung. Zusammen mit ihrem Ehemann Viktor und ihrem Schwiegersohn Ivgeny ist sie in einem typischen niedersächsischen Wohngebiet angekommen.

Zweieinhalb Tage haben sie für die letzte Etappe gebraucht: Von Ternopil im Westen der Ukraine über Rumänien und Ungarn kommen sie nach Norddeutschland. Hier kommen Viktor und sie bei ihrer Nichte unter, die schon seit sieben Jahren in Deutschland lebt. Auch ihre Tochter Iryna wohnt mit ihren drei Kindern in der Nähe - und ist glücklich, dass die Familie nun wieder komplett ist.

Familie Koktash nach der Flucht wieder vereint (von links): Anja, Mischa, Schwiegermutter Lidiia, Tanja, Zoe, Aryna, Ivgeny, Viktor, Iryns © NDR/privat Foto: privat
Familie Koktash nach der Flucht wieder vereint (von links): Anja, Mischa, Schwiegermutter Lidiia, Tanja, Zoe, Aryna, Ivgeny, Viktor, Iryna

Tanja Koktash war Musiklehrerin, ist viel gereist, legt Wert auf ihr Äußeres. Auf Handybildern sieht man sie im Kleid oder mit Rock und Bluse, immer mit Lippenstift und geföhntem Haar. Jetzt, nach zweieinhalb Tagen im Auto, sieht sie blass und müde aus. Sie hat kaum Gepäck dabei.

Tanja Koktash: "Als ich mein Haus in Sartana im Osten der Ukraine verlassen habe, habe ich praktisch nichts mitgenommen. Ich dachte, der Krieg dauert nur zwei Tage und wir können wieder zurück nach Hause. In Ternopil bei meinem Sohn habe ich dann endlich Anziehsachen bekommen, dort gab es viel humanitäre Hilfe und Kleiderspenden. Aber ich habe nur ein paar praktische Sachen mit nach Deutschland genommen."

Das Zuhause zerstört - plötzlich Kriegsflüchtling

Dass sie mit 62 Jahren noch mal zum Kriegsflüchtling wird, konnte sie sich bis vor Kurzem nicht vorstellen. "Natürlich war uns klar, dass wir uns im Osten der Ukraine eigentlich seit acht Jahren im Krieg befinden. Mal gab es mehr Kämpfe, mal weniger - daran hatten wir uns schon gewöhnt", sagt die Ukrainerin. "Aber dass es so schlimm werden würde, damit habe ich nie gerechnet! Dass wir das Land verlassen müssen! Dass wir alles verlieren, was wir haben! Nein, das hatte ich mir so nicht vorstellen können..."

Tanja Koktash mit Familie und Gästen auf der Terrasse ihres Hauses in Sartana, nahe Mariupol. © NDR Foto: privat
Tanja Koktash mit Familie und Gästen auf der Terrasse ihres Hauses in Sartana.

Ihr Haus in Sartana in der Nähe von Mariupol ist nahezu zerstört: die Scheiben sind durch Druckwellen gebrochen, die Zimmerdecken zum Teil eingestürzt. Dass russische Soldaten jetzt kommen und einfach ihre Sachen nehmen könnten, ist für Tanja Koktash eine demütigende Vorstellung. "Deshalb habe ich meinen Nachbarn gesagt: Geht in mein Haus und nehmt Euch alles, was Ihr braucht! Vor allem die ganzen Lebensmittel."

Wieder schaut sie auf ihr Handy, zeigt Fotos von ihrem Haus und ihrem Garten, und weint dabei. Ihr blühendes und friedliches Paradies gibt es nun so nicht mehr. Während Tanja Koktash ihre Fotos zeigt, sitzt sie unruhig auf der Kante der Couch und wirkt so, als würde sie direkt wieder abreisen wollen. So richtig angekommen ist sie noch nicht in Deutschland; in Gedanken ist sie noch ganz in ihrer Heimat Ukraine.

"Ich vermisse mein Zuhause, meine Freunde und einfach das ganz normale Leben, das ich geführt habe. Ich hatte alles, was ich brauche. Und das Schlimmste daran ist: Ich weiß nicht, ob ich dieses alte Leben jemals wieder zurückbekommen werde." Tanja Koktash

 


19.04.2022

Blog #1 - Die Flucht aus der Ukraine

Tanja Koktash und ihr Mann Viktor leben in Sartana, eine Siedlung nahe der Hafenstadt Mariupol im Osten der Ukraine. Am Abend vor Kriegsausbruch Ende Februar habe sie dort noch glücklich ihren Geburtstag gefeiert, berichtet sie im Gespräch mit NDR Info. Doch dann begann der Beschuss, es kam zu Bombeneinschlägen in ihrer Nachbarschaft und das Ehepaar floh zu Freunden nach Mariupol. Dort schliefen sie drei Nächte in einem Theater, wo später 300 Menschen durch einen Luftangriff ums Leben kamen.

Der Krieg erreicht Mariupol

Während eines Video-Telefonats ist auf einem Smartphone Tanja Koktash zu sehen. © NDR Foto: Sabine Hausherr
Tanja Koktash während des Video-Interviews. Zu diesem Zeitpunkt ist die 62-Jährige auf der Flucht aus der Ukraine.

Etwa eine Woche später, am 3. März, wurde sich Tanja Koktash der Gefahr in ihrer Heimat bewusst. Sie war noch immer im Mariupol. Strom und Gas waren wieder einmal ausgefallen, deshalb bereitete sie draußen auf einem Gaskocher Piroschki, die in Osteuropa geliebten Teigtaschen, zu - als plötzlich ein Panzer das Nachbarhaus beschoss. "Es war schrecklich; diese Druckwelle! Alle Fensterscheiben zerbrachen, ich wurde wie durch einen Schlag zurück ins Haus geworfen. Zum Glück stand die Tür offen, sonst wäre ich dagegen geprallt - und jetzt wahrscheinlich tot", erinnert sich die 62-Jährige.

Das, was sie anschließend auf den Straßen von Mariupol erlebte, ist erschütternd: "Einige Leute hatten ein paar Lebensmittelvorräte. Sie gingen mit ihren Kindern vor die Häuser und bereiteten dort draußen ihr Essen zu - es ging ja nicht anders. Doch es passierte sehr oft, dass Granatsplitter von Explosionen umherflogen und dabei ganze Familien, die gerade ihr Essen kochten, töteten."

Tanja Koktash und ihre Freunde beerdigten die Kriegsopfer. "Uns wurde gesagt, wir sollen sie begraben, wo wir wollen. So haben wir die Toten nicht weit von ihrem Zuhause entfernt begraben, auf den Hinterhöfen und Spielplätzen. In der Nähe jedes mehrstöckigen Gebäudes befanden sich Massengräber.“

Schüsse und Demütigung auf der Flucht

Mit diesem Auto floh Tanja Koktash vor den russischen Angriffen. Die Heckscheibe ist gesplittert, an der Seite sind Einschusslöcher zu sehen. © NDR
Mit diesem Auto flohen Tanja und ihr Mann aus Mariupol. Die notdürftig geflickte Heckscheibe zeugt vom Beschuss, in den sie dabei gerieten.

Erst am 17. März verließ das Ehepaar auf Drängen ihres Sohnes die Hafenstadt Mariupol. "Um 16:30 Uhr sind wir losgefahren. Überall hörten wir Explosionen, es war sehr beängstigend. Unser Auto geriet unter Beschuss, die Heckscheibe zersplitterte. Wir klebten sie mit Klebeband und Folie zu. Durchs Zentrum konnten wir nicht fahren, das war zu gefährlich, also haben wir nur die kleinen Straßen und Schleichwege direkt am Meer entlang genommen", berichtet die Ukrainerin.

Auf ihrer Flucht wurden sie immer wieder vom russischen Militär gestoppt und kontrolliert. Tanja Koktash hatte zuvor alle Kriegsfotos von ihrem Handy gelöscht, damit die Soldaten ihr das Mobiltelefon nicht abnehmen. Die Kontrollen empfand sie als Tortur. Am schlimmsten kam es in der Hafenstadt Berdjansk: "Wir standen in einer langen Autoschlange am Kontrollpunkt. Unser Auto wurde komplett durchsucht und dann musste mein Mann sich nackt ausziehen. Es war sehr kalt und hat geschneit. Die Russen untersuchten seinen ganzen Körper nach pro-ukrainischen Tattoos oder Nazisymbolen wie Hakenkreuzen. Acht Stunden lang wurden wir da festgehalten." Dann ließen sie russischen Soldaten das Ehepaar weiterfahren.

NDR Reporterin Sabine Hausherr interviewt zusammen  mit Übersetzerin Larysa Papakitsa per Video-Telefonie auf einem Smartphone Tanja Koktash in der Ukraine. © NDR
NDR Info Reporterin Sabine Hausherr (hinten) beim Video-Interview mit Tanja Koktash. Ihre Nichte übersetzt das Gespräch.

Über Saporischschja im Süden des Landes gelangten sie nach Ternopil, einer Stadt im Westen der Ukraine, wo ihr Sohn lebt. 1.100 Kilometer sind sie zu diesem Zeitpunkt bereits vor dem Krieg geflohen. Hier kommen sie kurz zur Ruhe und Tanja nimmt sich die Zeit für das erste Gespräch. Es fällt ihr schwer, von ihren Erlebnissen zu erzählen. Immer wieder unterbricht sie das Video-Telefonat, um sich zu sammeln. Aber sie will weitermachen, damit die Welt aus erster Hand erfährt, was in der Ukraine passiert.

In den nächsten Tagen wollen Tanja Koktash und ihr Ehemann Viktor weiter: über Polen nach Deutschland, zu ihrer Tochter Iryna, die mit ihren drei kleinen Kindern seit wenigen Wochen im niedersächsischen Helmstedt lebt. Wann genau sie über die polnische Grenze kommen, weiß Tanja jetzt noch nicht. Sie weiß nur, dass sie möglichst bald wieder zurück will: "Sobald der Krieg vorbei ist, will ich wieder nach Hause. Ich habe schon jetzt solches Heimweh."

 

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NDR Info | Aktuell | 23.12.2023 | 07:15 Uhr

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