Drosten über Omikron: Risiko für Ungeimpfte könnte steigen
Wenige Daten, viele Unwägbarkeiten: Auf Basis der ersten Zahlen geht der Virologe Christian Drosten davon aus, dass die neue Coronavirus-Variante Omikron den Übergang aus einer pandemischen in eine endemische Situation markieren könnte - zumindest im Süden Afrikas.
"Wir haben es hier mit einem perfekten Nach-Pandemie-Virus zu tun, mit einem perfekten ersten endemischen Virus", sagt Drosten in der neuen Folge des NDR Info-Podcasts Coronavirus-Update. Jedenfalls dort, wo die Mutante entstanden ist, könnte Covid-19 wohl bald zu einer Krankheit werden, die regelmäßig und gehäuft auftritt, aber nicht mehr die Ausmaße einer Epidemie erreicht. In den südlichen afrikanischen Ländern sind die Impfquoten zwar niedrig, aber die Bevölkerungsimmunität ist dennoch ausgesprochen hoch, weil sehr viele Menschen die Infektion durchgemacht haben. Erste, noch unvollständige Daten weisen darauf hin, dass sich Omikron extrem schnell verbreitet. Bislang wurden in Südafrika zumeist relativ milde Verläufe beobachtet.
Deutschland nicht bereit für endemische Phase
Die schlechte Nachricht für Deutschland: "Wir sind noch nicht bereit für eine Nachdurchseuchung, wir sind noch nicht so weit mit unserer Impfimmunität", sagt der Leiter der Virologie an der Berliner Charité. Es sei nicht verantwortbar, dass man die nötige Immunität für den Eintritt in eine endemische Phase durch Infektionen erlangt. "Das würde zu viele schwere und Todesfälle verursachen." Um eine Bevölkerungsimmunität zu erreichen, müssten vor allem die Impflücken geschlossen werden. Boostern allein helfe in diesem Punkt nicht weiter. Allerdings erhöhe es den Schutz, auch gegen die neue Mutante: "Die geboosterte Impfung ist die neue Doppelimpfung. Das, was Omikron an Immunschwund macht, ist vielleicht der Unterschied zwischen zwei Dosen und drei Dosen."
Schwierige Datenlage
Die Interpretation erster Daten aus Südafrika beschreibt Drosten als schwierig, weil diese keine zwei Wochen nach der Einstufung der Variante als "besorgniserregend" natürlich noch unvollständig sind. Zudem hat das Land eine ganz andere Infektionsdynamik erlebt: Auf der Südhalbkugel gab es eine schwere Winterwelle während des europäischen Sommers, danach war das Pandemiegeschehen fast zum Stillstand gekommen, die Immunisierung vor allem durch Infektionen mit dem nahenden Sommer fast abgeschlossen. Und nun taucht ein Virus auf, das offenbar die Restschwächen in der Immunität der Bevölkerung rasend schnell ausnutzt.
Zuwachsrate von 25 Prozent - Drosten: Geschwindigkeit erschreckend
Aus Infektionszahlen vor allem aus der stark von Omikron betroffenen Provinz Gauteng lässt sich eine Zuwachsrate von 25 Prozent pro Tag errechnen. Das käme einer Verdoppelung etwa alle vier Tage gleich. Der R-Wert (Ansteckungsrate) in Gauteng wird auf 2,2 geschätzt, für die Delta-Variante liegt die Reproduktionszahl dort bei 0,8. Auch in England mit derzeit über 300 bestätigten Omikron-Fällen deuten sich tägliche Zuwachsraten von 25 Prozent an. "Die Geschwindigkeit der Reproduktion ist erschreckend", sagt Drosten.
Antikörper - Drosten erwartet hohen Neutralisationsverlust
Zugleich legt ein Preprint nahe, dass die Reinfektionsquote in Südafrika mit dem Auftauchen von Omikron um das 2,5-Fache angestiegen ist. Das verstärkt Annahmen, dass die Variante mit mehr als 50 Mutationen nicht nur einen Fitnessvorteil haben könnte, sondern auch der Immunantwort effektiver ausweichen kann als vorangegangene Varianten. Eigene Labordaten zur Aktivität von Antikörpern bei Kontakt mit B.1.1.529 fehlen noch, sagt Drosten. "Aber meine feste Erwartung ist, dass es einen Neutralisationsverlust gibt wie bei keiner anderen Variante zuvor." Das würde bedeuten: Die Immunantwort bei Geimpften und Genesenen würde deutlich reduziert, Impfstoffe müssten angepasst werden.
"Die geboosterte Impfung ist die neue Doppelimpfung. Das, was Omikron an Immunschwund macht, ist vielleicht der Unterschied zwischen zwei Dosen und drei Dosen." Christian Drosten
Biontech und Moderna arbeiten nach eigenen Angaben bereits an einem Update für ihre mRNA-Vakzine. Drosten geht davon aus, dass ab dem zweiten Quartal nächsten Jahres mit der neuen Generation geimpft werden kann.
Kein lebenslanges Impf-Abo - "Virus-Evolution hat biologische Grenzen"
Befürchtungen, dass die Entwicklung von Sars-CoV-2 gleichbedeutend ist mit einem "lebenslangen Impf-Abo", räumt der Virologe aus. "Wir sind auf dem Weg in einen endemischen Zustand, der Übergangsprozess wird auch bei uns stattfinden." Er will nicht ausschließen, dass man die gesamte Bevölkerung noch ein paar Jahre zum Winter hin nachboostern müsse. Aber: "Die Virus-Evolution hat biologische Grenzen. Coronaviren sind auf gewisse Art auch stabiler als Influenzaviren, wir werden aus dieser Pflicht irgendwann vielleicht rauskommen und mit dem Virus ähnlich umgehen können wie mit einer Grippe."
Macht Omikron mildere Verläufe?
Zur Frage, wie krank die neue Variante macht, gibt es bisher ebenfalls nur unvollständige Daten. Eine Krankenhaus-Gruppe aus Pretoria hat dokumentiert, dass von den ersten mit Omikron infizierten und hospitalisierten Patienten nur 21 Prozent eine Sauerstoffversorgung brauchten. Das ist wenig bei krankenhauspflichtigen Covid-19-Erkrankungen. Die Sterberate sank von 17 auf 6,6 Prozent, die Aufenthaltsdauer verkürzte sich von 8,5 auf drei Tage. Drosten schränkt ein: Das sind zum einen vorläufige Daten, zum anderen gelten sie für ein Land, in dem fast jeder schon eine Sars-CoV-2-Infektion durchgemacht hat.
Mehr Kinder im Krankenhaus - Kein harmloses Virus für Ungeimpfte
Das Auffälligste an der Krankenhausstudie ist laut Drosten das Alter der Patienten: 80 Prozent waren jünger als 50 Jahre, 19 Prozent Kinder bis neun Jahre. Auch in Südafrika werden Kinder unter zwölf Jahren derzeit noch nicht geimpft. Bei allen Abstrichen, die an diesen ersten Daten gemacht werden müssen, erregen die Angaben zu betroffenen Kindern die besondere Aufmerksamkeit des Virologen. Bisher sind kleine Kinder weniger von der Infektion betroffen gewesen, daher könnte die Omikron-Variante bei Kindern nun die bisher ausgefallenen Erstinfektionen nachholen. "Ich nehme daraus mit, dass das nichts Gutes für die immunologisch naive Gruppe bedeutet, dass Omikron kein harmloses Virus für Ungeimpfte ist", sagt Drosten. Eine Virusvariante, die eine Kombination aus effektiver Immunflucht und einer sehr schnellen Vermehrung besitze, sei bislang immer mit einem Anstieg der Krankheitsschwere einhergegangen.
Die neue Virusvariante müsse sehr ernst genommen werden, denn noch wisse man nicht, wie sich B.1.1529 in Deutschland verhalte. Derzeit sind zwischen 25 und 30 bestätigte Fälle bekannt, Drosten geht davon aus, dass es übernächste Woche bereits zwischen 200 und 300 sein könnten: "Ich will keinen Teufel an die Wand malen, aber aus Verantwortung muss ich sagen, dass wir im Zweifelsfall immer Vorsichtsüberlegungen walten lassen sollten."
Omikron könnte uns bis in den Sommer beschäftigen
Sollte Omikron in Deutschland beispielsweise eine Verdoppelung der Infektionszahlen alle drei Tage erreichen, "dann ist das eine Entwicklung, die schneller ist als jede politische Entscheidungsmöglichkeit". Da Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern mit angezogener Handbremse fahre, also zahlreiche Corona-Schutzmaßnahmen aufrechterhält, könne die Zuwachsgeschwindigkeit auch geringer ausfallen, bei null werde sie aber ganz sicher nicht liegen. Drostens Einschätzung für die nächsten Monate: "Delta wird unser Problem sein bis in den Januar, Omikron bis in den Sommer hinein."
Hinweis: In der kommenden Woche sendet NDR Info eine Sonderfolge des Coronavirus-Update mit dem Allgemeinmediziner Marc Hanefeld aus Bremervörde mit Basic-Informationen zum Impfen. Ursprünglich war die Folge für den 10. Dezember geplant. Die Aufzeichnung muss wegen Krankheit jedoch verschoben werden.
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