Die Virologin Prof. Dr. Sandra Ciesek © Universitätsklinikum Frankfurt Foto: Ellen Lewis

Corona-Podcast: BA.4 und BA.5 übernehmen - Sommerpause fällt aus

Stand: 17.06.2022 17:13 Uhr

Die Corona-Infektionszahlen steigen wieder, BA.4 und BA.5 sind mittlerweile die vorherrschenden Virusvarianten. Was die Omikron-Subtypen so ansteckend macht und ob sie krankmachender sind als ihre Vorgänger, darüber spricht die Virologin Sandra Ciesek im NDR Info Podcast Coronavirus-Update.

von Ines Bellinger

"Man kann sagen, dass zwischen den Kalenderwochen 22 und 23 BA.4 und BA.5 auch hier in Deutschland dominant geworden sind", sagt die Direktorin der Medizinischen Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt am Main in der neuen Podcast-Folge. Diese Annahme stützen Wissenschaftler nicht nur auf die Meldezahlen des Robert Koch-Instituts (RKI), nach denen sich der Anteil der beiden Sublinien von Woche zu Woche verdoppelt, sondern auch auf Daten zu Abwasseruntersuchungen in Nordrhein-Westfalen und ausgewertete Tests eines Laborverbunds in Süddeutschland.

Das Coronavirus © CDC on Unsplash Foto: CDC on Unsplash
AUDIO: Die neue Podcast-Folge: Mit BA.4 und BA.5 in den Sommer (68 Min)

Ciesek: Abwasserstudie belegt Wachstum von BA.4 und BA.5

So ließ sich aus der Abwasseruntersuchung schon zum Stichtag 5. Juni ableiten, dass mehr als die Hälfte der gefundenen Virenfragmente BA.4- oder BA.5-Merkmale besaßen. Der Laborverbund aus Süddeutschland analysierte in der darauffolgenden Woche 50 Prozent Proben, die den neuen Subtypen zuzuordnen waren. Das RKI geht in seinem aktuellen Bericht, der die Kalenderwoche 22 (30. Mai bis 6. Juni) abbildet, von einem BA.5-Wachstum von 11,5 auf 23,7 Prozent aus. Bei BA.4 stieg der Anteil am gesamten Infektionsgeschehen von 2,2 auf 4,2 Prozent. Bereits in den Wochen davor hatte sich der Wert jeweils verdoppelt. Einem solchen Wachstum folgend, müsste BA.5 in dieser Woche bereits bei mehr als 90 Prozent angelangt sein.

Höchste Testpositivrate in Schleswig-Holstein

Derzeit wird vergleichsweise nur noch wenig getestet - 500.000 bis 600.000 Tests pro Woche. In der Spitze waren es mehr als zwei Millionen. Das Anziehen des Infektionsgeschehens ist jedoch deutlich an der Testpositivrate abzulesen. Die schnellte nach Angaben der Akkreditierten Labore in der Medizin zuletzt von 35 Prozent hoch auf 43,5 Prozent. Spitzenreiter in der Bundesländer-Rangliste waren in Kalenderwoche 23 Schleswig-Holstein mit 63,3 Prozent und Niedersachsen mit 55 Prozent. "Ich habe den Eindruck, dass es nun auch die erwischt, die vorher noch nicht infiziert waren", sagt Ciesek.

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In einem Labor werden PCR-Tests durchgeführt. © picture alliance/dpa | Henning Kaiser Foto: Henning Kaiser

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Sommerwelle baut sich auf - Saisonaler Effekt verpufft

Zwar zeigten die Statistiken aus den Krankenhäusern, dass längst nicht so viele Patienten behandelt werden müssten wie in vorangegangenen Wellen. "Aber wenn wir nicht gerade Sommer hätten, wären die Zahlen noch deutlich höher", sagt die Virologin mit Blick auf den saisonalen Effekt. Der verpuffe jedoch weitgehend, weil gegen die Ausbreitung des Virus so gut wie keine Maßnahmen mehr ergriffen werden - jedenfalls kaum noch verpflichtende. "Wenn man sich schützen will, gelten immer noch dieselben Regeln, die wir seit zwei Jahren kennen", sagt Ciesek: Masken tragen in Innenräumen, Abstand halten, lüften. Mit steigenden Infektionszahlen rechnet sie, "bis BA.5 sein Maximum erreicht hat".

Wenig Sequenzierungen - Mutations-PCR werden nicht mehr finanziert

Kritisch sieht die Virologin, dass laut RKI bundesweit nur noch zwei Prozent der Proben sequenziert werden. Da auch Mutations-PCR seit Februar nicht mehr finanziert werden, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, wer eigentlich mit welcher Virusvariante infiziert war. "Das ist schade, denn zum einen ist es relevant für mögliche Therapien. Monoklonale Antikörper wirken zum Beispiel je nach Variante unterschiedlich", sagt Ciesek. "Und zum andern erschwert es natürlich auch Immunitätsstudien - wenn ich zum Beispiel wissen will, wie eine durchgemachte BA.2-Infektion vor einer erneuten Ansteckung mit BA.5 schützt."

Mutationen als Treiber für Infektiosität und Immunflucht

Was die neuen Omikron-Untervarianten vom Subtyp BA.2 unterscheidet, wissen Forscher bereits: eine Mutation an Position 452 im Spike-Protein. BA.1 und BA.2 besaßen diese Mutation nicht, wohl aber die Delta-Variante. "Studien zeigen, dass diese Position wichtig ist für die Infektiosität und dass eine Mutation dort das Lungengewebe wieder leichter infizierbar macht", erklärt Ciesek. Bei Infektionen mit BA.1 und BA.2 waren häufiger die oberen Atemwege betroffen, das Virus drang nicht so tief in die Lunge vor.

Eine weitere Mutation an Position 486 führt nach ersten Erkenntnissen außerdem zu einem stärkeren Immune Escape, das Virus umgeht also die Immunantwort des Körpers noch besser als die bereits als hochansteckend geltenden Untervarianten BA.1 und BA.2 das vermochten. Und das bedeutet, dass sich Geimpfte und Genesene, die eine Infektion mit einer anderen Variante durchgemacht haben, trotzdem wieder infizieren können. "Das sind zwei Eigenschaften, die ein bisschen erklären, was gerade passiert und warum die Zahlen wieder ansteigen. BA.5 und BA.4 haben gegenüber BA.2 einen klaren Wachstumsvorteil", sagt Ciesek.

Bietet BA.2-Infektion mehr Schutz gegen neue Subtypen?

Eine Studie hat zudem gezeigt, dass vier Wochen nach einer BA.1-Infektion die Zahl der neutralisierenden Antikörper gegen BA.4 und BA.5 geringer war als gegen andere Varianten. Und je mehr Zeit vergeht, desto stärker sinkt der Spiegel der vorhandenen Antikörper. Ob eine BA.2-Infektion mehr Abwehrmechanismen gegen eine Ansteckung mit den neuen Sublinien entwickelt, untersucht gerade auch Cieseks Labor zusammen mit dem Impfstoff-Hersteller Biontech. "Es gibt erste Modellierungen, nach denen es so aussieht, als ob der Schutz auch geringer ist, aber besser als bei BA.1", sagt die Virologin. Allerdings sind die Daten noch sehr vorläufig.

Sollten sich diese ersten Ergebnisse bestätigen, könnte das möglicherweise die Sommerwelle in Deutschland bremsen. Denn anders als in Portugal, wo nach einer Winterwelle unter BA.1 die Verbreitung von BA.5 und BA.4 nun einen rasanten Anstieg der Infektionszahlen und auch der Todesfälle brachte, haben hier inzwischen viele Menschen bereits eine BA.2-Infektion durchgemacht, die möglicherweise etwas besser gegen BA.5 schützen könnte.

Pathogenität von BA.4 und BA.5 noch nicht geklärt

Dass BA.4 und BA.5 leichter übertragen werden und diese Sublinien die Immunantwort leichter überwinden, gilt als gesicherte Erkenntnis. Ob sie kränker machen als ihre Vorgänger, dazu wagen Wissenschaftler noch keine eindeutige Bewertung. So ist der deutliche Anstieg der Todesfälle in Portugal vordergründig mutmaßlich darauf zurückzuführen, dass viele ältere Patienten, deren dritte Impfung schon lange zurücklag, noch keinen weiteren Booster erhalten hatten und deshalb schwer erkrankten.

"Ich halte es für möglich, dass BA.5 wieder etwas pathogener sein könnte, aber das ist abschließend nicht geklärt." Sandra Ciesek

Andererseits deuten die Mutationen an Schlüsselstellen im Spike-Protein von BA.4 und BA.5 darauf hin, dass wieder mehr Lungenzellen infiziert und damit schwerere Verläufe hervorgerufen werden könnten. "Ich halte es für möglich, dass BA.5 wieder etwas pathogener sein könnte, aber das ist abschließend nicht geklärt", sagt Ciesek.

Die Immunität in der Bevölkerung habe sich durch Impfungen und durchgemachte Infektionen inzwischen auch so verändert, dass man nur noch schwer vergleichen könne, wie viel krankmachender eine BA.5-Infektion im Vergleich zu einer mit Alpha oder Delta ist. Und selbst wenn BA.5 wieder mehr schwerere Erkrankungen hervorrufen sollte, könnte das Virus dennoch weniger Schaden anrichten als noch vor zwei Jahren, als es noch keine Impfungen, antiviralen Medikamente und monoklonalen Antikörper gab.

Impfung schützt weiter vor schwerem Verlauf

Zum Thema Hybrid-Immunität - Mehrfach-Impfung plus durchgemachte Infektion - unter BA.2 fehlen noch Daten. "Die Impfung kann auch nicht sicher vor einer Infektion mit BA.5 schützen", sagt Ciesek. "Trotzdem geht man immer noch davon aus, dass die Impfung weiter zuverlässig vor einem schweren Verlauf schützt." Eine zweite Booster-Impfung empfiehlt die Ständige Impfkommission weiterhin nicht generell, sondern lediglich für über 70-Jährige und Risikogruppen.

Mit Blick auf mögliche Impfstoff-Updates rät Ciesek Älteren und Immunsupprimierten, diesen Empfehlungen zu folgen und nicht auf einen Impfstoff zu warten, "von dem nicht klar ist, wann er kommt und was der kann". Es müsse sich kein gesunder 30-Jähriger für den Sommerurlaub eine vierte Impfung holen, aber im Herbst könnte die Impfempfehlung ganz anders ausfallen. Dringend diskutiert werden müsste aus Cieseks Sicht, wie Corona-Impfstoffe künftig ebenso schnell aktualisiert werden könnten wie Influenza-Vakzine, die jährlich angepasst werden.

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Hepatitis bei Kindern - Studie beleuchtet Einzelfälle

Zur Skepsis rät die Virologin im Zusammenhang mit Berichten über einen angeblichen Zusammenhang zwischen dem gehäuften Auftreten von Hepatitis-Fällen und Long Covid bei Kindern. Eine entsprechende Studie aus Israel, die lediglich fünf Einzelfälle anhand nicht standardisierter Daten beleuchtet, nennt Ciesek eine "Fallberichtssammlung, die nicht weiterhilft bei der Klärung der eigentlichen Frage". Zudem sei der Titel irreführend, weil ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Hepatitis-Fälle und der Long-Covid-Erkrankung mit dem Paper nicht nachgewiesen werde.

Tatsächlich verzeichnete das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) seit Januar bis zum 9. Juni 402 Fälle akuter Leberentzündungen bei Kindern bis 16 Jahren. Allein 224 Fälle wurden in Großbritannien (bei Kleinkindern bis fünf Jahre) registriert, kein einziger bislang in Deutschland. Die Ursache ist ebenso wie das gehäufte regionale Auftreten unklar.

Leberentzündung: Wie Unfall mit Fahrerflucht

Generell sei es schwer, die Ursache für eine Leberentzündung zu finden. "Das ist wie ein Unfall mit Fahrerflucht: Der Auslöser ist zum Zeitpunkt, an dem sich der Leberschaden manifestiert, schon gar nicht mehr nachweisbar", sagt Ciesek, deren Forschungsschwerpunkt Hepatitis ist. An einen zunächst vermuteten primären Zusammenhang mit Adenoviren glaubt sie ebenso wenig wie an die Long-Covid-These. Denkbar wäre jedoch, dass Sars-CoV-2 in Kombination mit anderen Viren eine Immunreaktion ausgelöst haben könnte, die sich gegen Leberzellen richtet. Die Fälle müssten sorgfältig medizinisch aufgearbeitet werden, für Panikmache bestehe kein Grund. "Eine Beteiligung von Sars-CoV-2 ist aber weiterhin weder bewiesen noch ausgeschlossen."

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | 17.06.2022 | 17:00 Uhr

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