Ulrich Schnabel im Porträt © Martina van Kann
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AUDIO: Ulrich Schnabel mit seiner Gesellschaftsanalyse: "Zusammen" (55 Min)

"Zusammen": Ulrich Schnabel über seine Gesellschaftsanalyse

Stand: 08.11.2022 11:31 Uhr

Täglich wird die Gesellschaft mit großen Herausforderungen konfrontiert, die jeden angehen. Der Wissenschaftsredakteur Ulrich Schnabel ist diesem Phänomen auf den Grund gegangen.

Zu diesen großen Herausforderungen gehören zum Beispiel die Pandemie, der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel und politische Instabilitäten. Ulrich Schnabel fragt: Was kann ein Mensch, was kann eine Gesellschaft tun, um sich zu wappnen, um diese Zerreißprobe zu meistern?

"Zusammen. "Wie wir mit Gemeinsinn globale Krisen bewältigen", lautet seine Antwort und ist der Titel seines neuen Buches. Passend zum Auftakt der ARD Themenwoche, die in diesem Jahr mit dem Motto überschrieben ist: "Wir gesucht! Was hält uns zusammen?", spricht Ulrich Schnabel über den "sensus communis" und eine vergessene Tugend. Ulrich Schnabel zeigt, warum Gemeinschaft Leben verlängert, wie Kooperation gelingt und warum individuelle Freiheit nur in Gesellschaften funktionieren kann, nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren und Pflanzen.

Welches Erlebnis von Gemeinsinn hat Sie denn beeindruckt und war das auch der Anlass sich etwas näher mit dem Thema zu beschäftigen?

Ulrich Schnabel: Ich habe mich schon lange mit dem Thema beschäftigt: Sozialer Zusammenhalt oder auch wie sehr wir durch die anderen beeinflusst werden. Irgendwann las ich die Geschichte von Mammutbäumen. Das war eine richtige Initialzündung, weil das ein schönes Bild ist. Die Mammutbäume sind die größten Bäume, die es gibt. Sie können über 100 Meter hoch und mehrere tausend Jahre alt werden, damit sind es wahnsinnig beeindruckende Persönlichkeiten. Man würde annehmen, dass diese Bäume sehr tiefe Wurzeln haben, damit sie stabil stehen, aber das Erstaunliche ist, diese Bäume sind Flachwurzler. Ihre Wurzeln gehen nur etwa einen Meter in die Tiefe und man fragt sich sofort, wie können die so lange und so stabil stehen?

Das Geheimnis der Mammutbäume ist, dass sie ihre Wurzeln unter der Erde ausstrecken und zwar so lange, bis sie die Wurzeln der anderen Mammutbäume finden. Dann verbinden sie sich unterirdisch, das heißt sie haken sich gegenseitig unter und stützen sich. Dadurch können sie stabil stehen, selbst kleine und junge Mammutbäume werden in dieses Netzwerk aufgenommen. Ich fand, das ist ein wunderbares Bild, das auch uns Menschen wunderbar beschreibt, denn auch wir sind alle vernetzt, oftmals ohne es zu merken. Wir halten uns alle für wahnsinnig individuell und einzigartig, aber eigentlich entspringt unsere Stärke diesem Zusammenhalt.

Ulrich Schnabel im Porträt © Martina van Kann
AUDIO: Ulrich Schnabel mit seiner Gesellschaftsanalyse: "Zusammen" (55 Min)

Sie sagen in Ihrem Buch, dass vor allem die Beziehungen zu den Nachbarn sehr wichtig sind. Das ist ein schöner Gedanke, und ich glaube, den leben auch sehr viele Menschen. Hatten Sie denn den Eindruck, dass das vernachlässigt wird? Ich hatte gerade während der Corona Pandemie das Gefühl, dass auf einmal eine große Kommunikation stattfand.

Schnabel: Ich glaube, da hat man plötzlich gemerkt, wie wichtig die Menschen sind, die nebenan leben, was man vielleicht früher ein bisschen vergessen oder unterschätzt hat. Nachbarn sind insofern eine interessante Gruppe, weil sie uns einerseits ganz nahekommen und gleichzeitig fremd sind. Sie sind eine Mischung aus fremd und doch nicht fremd. Ich habe, in Vorbereitung für mein Buch, mit vielen Leuten Gespräche über Nachbarn geführt. Es gibt zwei Gruppen, die einen sind im Dauerstreit mit ihren Nachbarn - sie streiten sich an jedem Wochenende über die Hecke oder über den Baum, der zu viel Schatten wirft. Diese Menschen sind permanent im Kleinkrieg. Die anderen, die unterstützen sich gegenseitig. Sie machen gemeinsame Feste, oder wenn mal die Milch alle ist, dann geht man rüber und tauscht sich aus. Ich glaube, die Nachbarn sind für unsere Lebensqualität absolut entscheidend.

Es gibt auch Studien, die zeigen, dass ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis in Krisensituationen die beste Versicherung ist. Denn das sind die Ersten, die mir helfen können oder zu denen ich gehe oder mit denen ich mich abstimme, wenn irgendetwas ist. Wenn zum Beispiel der Strom ausfällt, dann geht man erstmal zu den Nachbarn und fragt, wie es ihnen geht und ob sie Kerzen haben, oder ob man sich zusammentun kann. Insofern ist der Gemeinsinn, von dem ich spreche, der gesellschaftliche Gemeinsinn. Der beginnt, wenn ich vor die eigene Haustür trete und mit den Nachbarn interagiere.

Welche Erfahrungen haben Sie mit einem Tier geprägt? Und was haben Sie dabei gelernt? Das Spannende daran ist, dass man, wenn man über die Begegnung oder das Leben mit Tieren nachdenkt, auch gestehen muss, dass da eine große Gemeinschaft ist. Obwohl das Tier und der Mensch fundamental anders ticken und auch anders handeln.

Schnabel: Absolut richtig. Tiere ahnen sehr viel, wie der Mensch ihnen gegenübertritt. Ob er ihm freundlich gesonnen ist oder nicht. Das spüren sie ohne Worte. Es gibt eine Verbundenheit, die jenseits dessen ist, was wir mit unserem rationalen Verstand erfassen können. Ganz am Anfang hatten wir dieses Bild der Mammutbäume, die unterirdisch ihre Wurzeln verbinden - zwischen Mensch und Tier gibt es auch solche Wurzeln. Die sehen wir nicht und die verstehen wir auch vielleicht gar nicht vollständig, aber sie sind da.

Das Gespräch führte Martina Kothe.

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