NachGedacht: Die documenta fifteen geht an den Start
Am 18. Juni sagt Kassel für 100 Tage: Kunst ohne Grenzen. Viel wurde bereits im Vorfeld darüber gesagt, geschimpft, gemutmaßt. Jetzt geht es tatsächlich los.
Ja, durchaus, ich bin gespannt, auch neugierig. Nur noch wenige Tage, dann beginnt das, worüber wir schon seit Monaten berichten, mit Achselzucken, Stirnrunzeln, vielen Fragezeichen. Alles nicht neu. Immer in der documenta-Geschichte gab es vor Beginn des Mammutprojekts eine spannungsreiche Gemengelage aus Aufbruch, Raunen, Unmut, Genöle, Krach.
1972 zum Beispiel. Es war die legendäre 5. Ausgabe der documenta, da sollte auch schon einmal alles anders werden. Leute um den Plakatkünstler Klaus Staeck richteten sich gegen den Kurator Harald Szeemann mit einer, wie sie sagten, "offenen Kampfansage an den herrschenden Kunstbetrieb". Raus aus der passiven Konsumentenhaltung, hin zur aktiven und umfassenden Diskussion über die Kunst und ihre Ausstellung. Doch der Protest blieb stecken. 50 Jahre ist das jetzt her, ein halbes Jahrhundert. Demokratisierung der Kunst, Partizipation, Teilhabe sind bis heute vielfach nicht eingelöste Versprechen, auch wenn gerade die 1970er Jahre den gesellschaftlichen Aufbruch beschworen.
Epizentrum der documenta 15 wird zur Fridskul
Jetzt, 2022, könnte sich das erfüllen, wofür die Streiter und wachen Köpfe von damals in den Ring traten. Die meisten documenta-Projekte wird man in diesem Jahr nie greifen, sehen, geschweige denn irgendwann zu Geld machen können. Die, die ihre Kunst ausstellen, kommen aus dem globalen Kontext. Viel im unübersichtlichen Viel. Bunt: Gelb, Rot, Grün, Lila sind die Farben der indonesischen Kuratoren, ruangrupa. Zu sehen auf Bannern, Plakaten, Magazinen. Gelassen, gutgelaunt, entspannt soll es werden in Kassel. Alles Adjektive, nach denen wir uns vielleicht mehr sehnen, als wir zugeben mögen.
So soll etwa das Museum Fridericianum, Epizentrum der documenta, umgewandelt werden: Das Museum wird zur Schule, zur Fridskul, wie es wortspielerisch heißt. Kein Zufall. Bereits in Jakarta hatte ruangrupa eine Schule etabliert. Eine Bildungsplattform für alle, die kollektiv lernen möchten. Was auch immer das im Detail bedeutet, das Fridericianum wird Räume dafür bereitstellen, in denen gelernt, getalkt, geteamt werden kann. Tag und Nacht vermutlich, deshalb wird hier auch gelebt und gewohnt.
Kunst zum kritischen Ereignis werden lassen
Lernen als kollektive Vision, klingt nach paradiesischer Wunderwelt, die uns in den unwirtlichen und rauen Gegenwartszeiten eher genommen worden ist. Die documenta fifteen, sie wird gelabelt als "lumbung", die indonesische Reisernte, und immer wieder als riesengroße Party. Schöne Ideen, die nachhaltig sein sollen, die aber auch Gefahr laufen, in Indifferenz zu verpuffen. Das aber könnte sich die weltweit wichtigste Ausstellung für zeitgenössische Kunst kaum erlauben. Themen wie Antisemitismus, Rassismus, Kolonialismus, Demokratieskepsis vertragen keine simplifizierenden Argumentationsschleifen, sondern sind gerade von einer Kunst, die gezielt das Politische integriert sehen will, ernst zu nehmen.
Welche Gestalt die auf Prozess und Dynamik angelegte documenta bis September annehmen wird, hängt letztlich von den Besucherinnen und Besuchern ab, von denen erwartet wird, dass sie ihr eigenes Potential kreativ aktivieren und Kunst zum kritischen Ereignis werden lassen. Ein Abenteuer.