NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke

NachGedacht: Nichts gegen Bullerbü!

Stand: 29.07.2022 09:39 Uhr

Eine neue Beschimpfung macht die Runde. Sie ist so dermaßen abstrus, dass sogar Alexander Solloch, der Kreativität im Beschimpfungssektor eigentlich zu schätzen weiß, in seiner Kolumne gern einschreiten möchte.

von Alexander Solloch

Möchte man jemandem mal so richtig was mitgeben, ihm seine ganze Traumtänzerei und Naivität und Wolkenkuckucksheimbesiedlung ins Gesicht brüllen, dann sagt man ihm neuerdings nicht mehr: "Du Traumtänzer bist ja so naiv, dass Du mal schauen solltest, ob du in Wolkenkuckucksheim vielleicht noch eine Mietwohnung für 12 Euro pro Quadratmeter findest!"

Nee, sagt man nicht mehr, weil das zwar als Beschimpfung schon ganz okay ist, sich damit aber die eigene Verachtung für alles Schöne und Gute, für Kultur und Intellekt, für Phantasie und Herzenswärme noch nicht deutlich genug ausgedrückt hat. Man sagt also jetzt: "Bullerbü!" - und hofft, der Gegner möge vor Scham zerfließen.

Erstaunliche Karriere des Schimpfwortes "Gutmensch"

Kennzeichnend für die hiesige Beschimpfungslandschaft ist der Gedanke, jemandem sei bestimmt der totale rhetorische Knockout zuzufügen, wenn man ihn nur als eine Person diffamiere, die absurderweise nicht den Kampf aller gegen alle und aller gemeinsam gegen den Planeten wünscht. Darum hat ja auch das Schimpfwort "Gutmensch" so eine erstaunliche Karriere hinlegen können. Die mehr als gute, die wundervolle Schriftstellerin Silvia Bovenschen schrieb dazu schon vor 15 Jahren: "Es ist mir vollkommen schleierhaft, wie man die erstrebenswerte Qualität des 'Guten' zum Ausgangspunkt einer Diskriminierung machen kann. Ich bin ja nicht blöd, ich kann vermuten, wie dergleichen zustande kommt, verstehe auch die Abneigung gegen die Selbstgerechtigkeit derjenigen, die mit gezückter Moralkeule ständig darauf lauern, andere eines Vorurteils überführen zu können, habe aber zugleich die tiefste Aversion gegen Leute, die ihre Aversion zum Vorwand nehmen, das Gutsein in toto lächerlich zu machen, um so ihre eigenen Schweinereien zu lizenzieren."

Gut, gut: der "Gutmensch" ist jetzt eben einer aus Bullerbü. Die Vorsitzende des Bauernverbands Uckermark wetterte jüngst gegen Bestrebungen, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu reduzieren, mit den Worten: "Es geht nicht, dass wir uns ein grünes Bullerbü leisten und auf dem Weltmarkt billige Rohstoffe aus Regionen einkaufen, in denen nicht so gesund und nachhaltig produziert wird", womöglich gar, möchte man bang hinzufügen, Rohstoffe aus Bullerbü, die nicht mit so gesunden und nachhaltigen Pestiziden angereichert sind.

Zur deutschen Vielfalt gehört wesentlich die Einfalt

"Die Welt" beklagte kürzlich das deutsche "Verwöhn-Wohlstands-Illusionstheater" und verortete dessen Ursprünge in "Bullerbü", dabei ist doch das Grundgesetz und nicht Bullerbü schuld daran, dass Donald Trump zum Jammer der "Welt" noch nicht Bundeskanzler werden konnte. Auch Christian Lindner will überhaupt kein Bullerbü und erklärte deshalb im letzten Wahlkampf: "Ich kann mich nicht erinnern, jemals gelesen zu haben, wovon die da eigentlich leben". Ehrlicher wäre es gewesen, er hätte diesen Satz schon nach "haben" beendet.

Sollte man den Eintritt ins Bundeskabinett vielleicht vom Bestehen eines kleinen Literaturtests abhängig machen, um zu überprüfen, ob die Kandidatinnen und Kandidaten überhaupt irgendetwas vom Leben wissen? Aber nein, eine Bundesregierung sollte ja nach Möglichkeit die deutsche Vielfalt abbilden, und zur deutschen Vielfalt gehört natürlich ganz wesentlich die Einfalt.

Von Bullerbü zum Schimpfen inspirieren lassen

Dass "die da" in Bullerbü sehr unidyllisch von der Landwirtschaft leben, von dem also, was sie unter großer Anstrengung selbst erwirtschaften, weiß immerhin jedes Kind. Der Zauber dieses Dorfes liegt ja nicht darin, dass dort irgendetwas schöner wäre, als es das naturwissenschaftlichen oder soziologischen Gesetzen zufolge sein dürfte. Nein, Astrid Lindgren war, wenn es drauf ankam, eine eiskalte Realistin; die kindliche Erzählstimme in der Bullerbü-Trilogie verbrämt das vielleicht ein wenig. Was uns heute aber doch tatsächlich so zauberhaft vorkommt, ist die große Freiheit, in der die Kinder von Bullerbü leben.

Die Erwachsenen lassen sie einfach weitgehend in Ruhe, nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil es praktischer und zeitsparender ist, als wenn man immerzu an ihnen herummacht. Lohnt also weiteres Nachdenken über Bullerbü? Unbedingt! Taugt Bullerbü zum Schimpfwort? Keineswegs! Aber man kann sich von Bullerbü gut zum Schimpfen inspirieren lassen. Lindner ist eben Lindner, kolifink, kolifink.

Weitere Informationen
Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

NachGedacht

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 29.07.2022 | 10:20 Uhr

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