Willkommen in der Debattenkultur anno 2020!
Unsere Kolumnistin Stephanie Pieper denkt in dieser Woche über Lieder mit und ohne Text, über Straßennamen und über Denkmäler nach:
Schlimm genug, sich die berühmte Last Night of the Proms in der Royal Albert Hall ohne Publikum vorzustellen: Keine verrückt gekleideten Brits, die entweder den Union Jack oder die Europa-Fahne schwenken (es gibt sie noch, die Unverbesserlichen).
Doch damit nicht genug: Jetzt sollen auch noch zwei der Gassenhauer des Abends - "Rule, Britannia!" und "Land of Hope and Glory" - am 12. September nur noch instrumental erklingen, ohne Gesang. Shocking! Dabei hätten gerade die Brexiteers gerade diesmal so gern voller Inbrunst die aus dem 18. Jahrhundert stammenden Zeilen "Britons never, never, never will be slaves" geschmettert - wo sich doch die Insel Anfang des Jahres endlich von den Brüsseler Sklavenhaltern auf dem Kontinent befreit hat.
Die ach so linksliberale BBC sei mal wieder eingeknickt vor der "political correctness" und habe nichts übrig für den Nationalstolz ihrer Landsleute - so wettert vor allem die konservative Presse seit Tagen, und der Premier Boris Johnson stimmt in diesen Chor ein. Nein, nein, das Nicht-Singen bei der "Last Night" sei lediglich der Corona-Pandemie, der Sorge um die Musikerinnen und Sänger geschuldet - verteidigt sich der scheidende BBC-Intendant. Er vermute im Übrigen, dass im nächsten Jahr alle Songs wieder mitsamt Text geträllert würden. Doch die Diskussion ist damit nicht verstummt: Die finnische Dirigentin der diesjährigen Last Night, Dalia Stasevska, muss in den sogenannten sozialen Medien persönliche Attacken erleiden - nachdem manche ihr unterstellen, sie sei es gewesen, die die umstrittenen Songs aus dem Programm nehmen wollte.
Der Begriff "Cancel Culture" macht die Runde
Willkommen in der Debattenkultur anno 2020! Eine weitere Episode, ein weiteres Schlaglicht. Erleben wir gerade einen neuen Clash der Kulturen? Das Wort von der "Cancel Culture" macht auch hierzulande die Runde. Andere Episoden sind der Streit um den Auftritt der Kabarettistin Lisa Eckhart in Hamburg, die Debatte um die Statue des ehemaligen Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika Hermann von Wissmann im Kurpark von Bad Lauterberg - oder die nun beschlossene Umbenennung der Mohrenstraße in Berlin in Anton-Wilhelm-Amo-Straße. Sollten wir Denkmäler von Herren, die keine blitzsaubere Weste haben, stürzen?
Sollten wir es verbieten, womöglich anstößige Liedtexte zu singen? Sollten wir Menschen, die Meinungen vertreten, an denen wir uns reiben, Auftritte untersagen? Ich meine, laute, pauschale, schnelle Antworten helfen uns - wie so oft im Leben - auch in dieser Debatte nicht weiter. Wir müssen jeden Einzelfall beleuchten, von möglichst vielen Seiten - und dann entscheiden. Mal für, mal gegen den Sturz, die Absage, die Umbenennung - mal im Konsens, mal im Dissens.
Aktivistin Millicent Fawcett wird mit Statue geehrt
Was aber auch zur Wahrheit gehört: Die Denkmäler, die wir kippen könnten, sind sowohl hierzulande als auch andernorts vor allem solche, die Männer darstellen. Caroline Criado Perez hat für ihr Buch "Unsichtbare Frauen" nachgezählt: Lässt man die Abbilder der Royals außen vor, dann stehen in Großbritannien mehr Statuen von Männern, die den Vornamen John tragen, als von Frauen. Die Feministin und Aktivistin hat erfolgreich dafür gekämpft, dass Millicent Fawcett, eine Vorkämpferin des Frauenwahlrechts, mit einer Statue auf dem Platz vor dem Parlament geehrt wird. Und auch im Central Park in New York wurde in dieser Woche endlich ein Bronze-Denkmal enthüllt, das drei führende US-amerikanische Suffragetten zeigt, die an einem Tisch debattieren. Überfällig war diese Anerkennung - und auch Deutschland könnte im öffentlichen Raum die Würdigung von mehr herausragenden Frauen gut vertragen.
Aber was machen wir nun bloß mit der Last Night? Wer daheim vor dem Bildschirm "Rule, Britannia!" oder "Land of Hope and Glory" mitsingen möchte zur Orchestermusik aus London, der soll es einfach tun. Weil’s die Proms sind, weil‘s Spaß macht - und weil’s für Gänsehaut sorgt. Jedenfalls bei mir.
