NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke

NachGedacht: Nach der Floskel ist vor der Floskel

Stand: 27.05.2022 06:00 Uhr

Nach der Bundesliga-Saison bleibt den Fußball-Fans eins erhalten: Der gutgelaunte Marketing-Sprech. Kolumnist Alexander Solloch wünscht sich die schlecht gelaunten alten Zeiten zurück.

von Alexander Solloch

"Mit unbändiger Freude, niemals versiegender Energie und hungrig wie noch nie gehe ich, Alexander Solloch, an die Herausforderung heran, hier nun Nachdenkliches zum Besten zu geben. Diese Kolumne hat sich in den vergangenen acht Jahren in vielerlei Hinsicht zu einer Bereicherung für die deutsche Medienlandschaft entwickelt. Ihre Prinzipien, skeptisch, polemisch und stets hin- und hergerissen zu sein, decken sich absolut mit meiner Kolumnenphilosophie. Ich werde weiterhin Tag für Tag oder immerhin alle drei Wochen leidenschaftlich und mit neuem Ehrgeiz…".

Ach, es ist doch alles gar nicht wahr. Das will doch kein Mensch hören, dieses gutgelaunte Betriebsamkeitsgegockel, mit dem sich vielleicht Müsli-Startups im Hamburger Schanzenviertel für den Deutschen Gründerpreis bewerben können. Aber darüber hinaus ergibt es doch überhaupt keinen Sinn. Ausgerechnet in dem Bereich des menschlichen Lebens, der am verschwenderischsten mit Sinn ausgekleidet ist, im Fußball, schwillt gerade dieses Gerede zu solchem Lärm an, dass einem schier die Ohren abfallen.

Edin Terzic will "Tag für Tag alles geben"

Man hätte ja meinen können, wir dürften nun ein paar Wochen Ruhe genießen, nachdem die Fußball-Saison mit dem Nicht-Aufstieg des HSV ordnungsgemäß zu Ende gegangen ist. Tatsächlich geht’s jetzt erst so richtig los, jetzt, da alle Vereine ihren Trainern die Maske heruntergerissen und erschüttert festgestellt haben, dass sich darunter überhaupt gar kein Klopp verbirgt. Und nun triumphal ihre neuen Vielleicht-Klopps vorzeigen.

In Dortmund heißt er für die nächsten paar Monate Edin Terzic. Er gibt an: "Tag für Tag alles für den Erfolg des Vereins zu tun" und fordert von sich oder überhaupt von allen, "so hungrig zu sein wie noch nie, so hart zu arbeiten wie noch nie, so positiv zu sein wie noch nie". Womit sich der schlechte Ruf des Positiven abermals erhärtet.

André Breitenreiter hat "großen Ehrgeiz"

André Breitenreiter wurde diese Woche als neuer Trainer der TSG Hoffenheim vorgestellt. Er sagte, er gehe "mit großem Ehrgeiz" an die Aufgabe, die TSG habe sich in den vergangenen 15 Jahren zu einer "Bereicherung für den deutschen Fußball" entwickelt.

Einen kleinen Lichtblick sendet immerhin Nico Kovac, dem ohnehin auf dem Felde der Knarzigkeit noch Großes zuzutrauen ist. Ihm fällt zu seinem neuen Job in Wolfsburg nur ein: "Die Lust und die Motivation sind sehr groß und die Bedingungen für eine optimale und erfolgreiche Arbeit sind gegeben". Eine Art Begeisterungsverweigerung, die sich in etwa mit den angenehm aufrichtigen Worten "Was soll ich machen, das war halt grad der einzige Verein mit Kohle, der mich gefragt hat" übersetzen lässt. Eine löbliche Ausnahme, aber doch: eine Ausnahme.

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Nico Kovac, im Hintergrund das VfL-Logo © IMAGO / Sven Simon

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Die schlechtgelaunten alten Zeiten

Historiker, zu deren Ausbildung eine mehrjährige Hospitation im Archiv des Fachblatts "kicker" gehört, können berichten, dass die Rhetorik einst grundlegend anders war. In den 80er-Jahren, der goldenen Dekade des Fußballs, in der es nur so rumpelte und schepperte, herrschte eine Übellaunigkeit, die heute ein Quell großer Freude ist. Und damals ein Quell großer Kraft gewesen sein muss.

Es ist geradezu wundervoll, wie sich Trainer und Spieler, Funktionäre und Schiedsrichter, Reporter und Leserbriefschreiber, Zeugwarte und Masseure gegenseitig in unterschiedlichsten Variationen ihr entsetzliches Versagen vorhielten, die Miserabilität des Betriebs und des Lebens an sich beklagten und auf diese Weise immer ganz nah bei sich, bei ihrer Wahrheit blieben. Diese Menschen verklebten sich nicht mit Zuckerguss ihre Gemüter.

"Das Leben hat an und für sich lauter Nachteile"

Heute hingegen erklärt HSV-Trainer Tim Walter angesichts des Kunststücks, gegen die mutmaßlich schlechteste Hertha BSC-Mannschaft aller Zeiten verloren zu haben: "Ich bin stolz auf meine Jungs". Frei nach Tucholsky: Wenn ich nicht stolz bin, bin ich auch HSV; dann bin ich schon lieber gleich stolz.

Seien wir ehrlich, das heißt: schlecht gelaunt. "Das Leben hat an und für sich lauter Nachteile", sagte Thomas Bernhard. Fällt einem in einer ganz normalen Woche wie dieser etwa eine überzeugende Widerrede ein? Schweigen fällt einem ein, schweigen und nach Hause gehen. Nach Hause gehen werde er jetzt, sagte Hertha-Trainer Magath nach dem Sieg in Hamburg. Nach Hause gehen und Holz hacken.

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Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

NachGedacht

Unsere Kolumnisten lassen die Woche mit ihren Kulturthemen Revue passieren und erzählen, was sie aufgeregt hat. Persönlich, kritisch und gern auch mit ein wenig Bösartigkeit gespickt. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 27.05.2022 | 10:20 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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