Mit der Zeit gehen: Aleviten in Hamburg
Ihre humanistische und spirituelle Gesinnung bereitet den Aleviten in ihrer türkischen Heimat über Jahrhunderte Probleme. Als religiöse Minderheit werden sie dort immer wieder benachteiligt, unterdrückt, sogar verfolgt. Trauriger Höhepunkt ist das Massaker von Sivas. Während einer Kulturveranstaltung im Juli 1993 steckt dort ein aufgebrachter Mob sunnitischer Fundamentalisten das Madımak Hotel in Brand, in dem überwiegend Künstler alevitischen Glaubens wohnen. 37 Menschen kommen dabei ums Leben. Yağmur war damals gerade mal drei Jahre alt. Trotzdem sitzen die Erinnerungen an Sivas tief. "Die Menschen, die dort gestorben sind, sind für uns nicht wie fremde Menschen, sondern wirklich wie eigene Verwandte gewesen. Ich war letztes Jahr auf der Demonstration in Sivas zum 20-jährigen Erinnern. Es war als wäre man selber dabei gewesen. Wirklich, man kann sich das nicht vorstellen, man steht vor einem Gebäude wo Menschen bei lebendigem Leib verbrannt worden sind."
Ausgerechnet die Tragödie von Sivas ist der Wendepunkt: Aus Protest gründen sich in Hamburg die ersten alevitischen Vereine weltweit. Die Universität Hamburg organisiert damals die erste öffentliche alevitische Kulturveranstaltung in Deutschland. Es gab zwar früher schon alevitische Zusammenkünfte, aber eben nicht unter dem Namen. Man traf sich heimlich, um nicht aufzufallen. So wird Hamburg die Keimzelle für ein neues alevitisches Selbstbewusstsein in ganz Europa.
Heute ist es einfacher
Yağmurs Eltern haben noch gelernt, ihren Glauben zu verheimlichen, um Problemen zu entgehen. Heute ist das anders. "Mein Cousin ist vier, der ist seit seiner Geburt im cem gewesen. Es ist heute viel einfacher den Kindern das beizubringen, weil die Gemeinden da sind", erklärt Yağmur.
Auch der cem ist ein Ort des gemeinsamen Lernens. Die Gemeinde darf deshalb jederzeit hinterfragen, was der dede von sich gibt. Und so führt eine Nachfrage von Yağmur zu lebhaften Diskussionen. Der dede hatte den Wert der Ehe angemahnt. Junge Leute sollten diese nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Yağmur erwidert, dass man nicht immer um jeden Preis zusammen bleiben kann. Jetzt muss sich der dede ihr gegenüber erklären. "Das Thema finde ich so spannend, das könnte ich hundert Jahre lang mit jedem diskutieren", sagt Yağmur. Dass eine junge Frau den dede hinterfragt und Erklärungen fordert, ist bei den Aleviten kein Problem. Ob Frau oder Mann, jung oder alt, macht im Alevitentum keinen Unterschied, denn der Lehre nach ist jedes Lebewesen als Gottes Schöpfung gleichberechtigt. Für Yağmur macht genau das den Reiz aus: "Wir haben Normen und Werte, die sich wirklich an den Menschen orientieren. Man muss seinen eigenen Verstand einsetzen, um den richtigen Weg zu gehen." Ein Weg, der die Aleviten als moderne Glaubensgemeinschaft mit der Zeit gehen lässt.
- Teil 1: "Das ist eine Lebenseinstellung"
- Teil 2: Eine moderne Glaubensgemeinschaft