Wo deutsche Muslime ihre Kreuze machen
NDR Kultur: Sie haben festgestellt, dass das Interesse an dieser Wahl groß ist in der türkischen Community. Sehen Sie das als einen Beweis für Fortschritte bei der Integration von türkischen Muslimen in Deutschland?
Sezer: In der türkischen migrantischen Community wird der Begriff der Integration inzwischen stark abgelehnt. Was bedeutet dieser Begriff für einen jungen Menschen, der in diesem Land geboren wurde, kein anderes Land als dieses kennt, die Menschen kennt, das Schulsystem kennt?
NDR Kultur: Zum Beispiel geht es um die Frage, ob sich diese jungen Menschen, die hier in Deutschland aufgewachsen sind, aber türkische Wurzeln haben, als Deutsche fühlen.
Sezer: Die Menschen, die an den Umfragen teilnehmen, müssen sich zunächst registrieren. Und dabei ist die erste Frage, die wir ihnen stellen: Wie möchten Sie bezeichnet werden? Und dann gibt es 16 Antwortalternativen plus eine offene Antwortmöglichkeit. Das sind Bezeichnungen wie Ausländer, Gastarbeiter, Migrant, Zuwanderer, Deutscher türkischer Herkunft, Deutsch-Türke oder Türke. Wir haben festgestellt, dass sich nur ein kleiner Prozentsatz von etwa zehn bis 15 Prozent selber als Deutsche bezeichnet. Etwas mehr als ein Viertel bezeichnet sich selber als Türke, und der größte Teil, mehr als ein Drittel, präferiert eine hybride Bezeichnung wie zum Beispiel Deutsch-Türke oder Deutscher türkischer Abstammung. Wir können also eine Tendenz zu Bezeichnungen feststellen, wo beide Identitäten, die türkische und die deutsche, zu einer Symbiose zusammengefasst sind.
NDR Kultur: In Deutschland leben mehr als vier Millionen Muslime. Haben die deutschen Parteien dieses Wählerpotenzial eigentlich erkannt? Und welche Folgen hat das im Wahlkampf?
Sezer: Ja, mittlerweile kann man sagen, dass die deutschen Parteien dieses Potenzial erkannt haben. Zuallererst hat es die SPD erkannt, aus naheliegenden Gründen, nämlich, dass türkische Sozialdemokraten ihre Ideologie nach Deutschland mitgebracht haben und auch natürlich in diesem Land praktizieren wollten. Es gibt eine unglaubliche Vernetzung zwischen der deutschen Sozialdemokratie und der migrantischen Community. Das erklärt auch, warum die SPD in der Gunst der türkischen Wahlberechtigten nur verhältnismäßig gering verliert. Die Grünen haben über die Thematik der Minderheitenrechte und der Flüchtlingspolitik mehr labile als stabile Beziehungen zur migrantischen Community aufbauen können. Über 20 Jahre haben diese beiden Parteien die migrantische Community dominiert, zumal die CDU und die FDP sich immer wieder die Frage stellen mussten, ob sich eine Investition in diese Community lohnt. Sind sie überhaupt in der Lage, die Grundsätze der Christdemokraten oder der Liberalen zu verstehen und zu übernehmen?
NDR Kultur: Aber ist es nicht überraschend, dass jetzt offenbar – obwohl die SPD immer noch in der Gunst der muslimischen Wähler weit vorne liegt – diese Partei Stimmen oder Wähler verliert zugunsten einer dezidiert christlichen Partei?
Sezer: Ja, das ist sehr interessant. Aber man muss auch anerkennen, dass die CDU nach der Niederlage bei den Bundestagswahlen im Jahre 2002 eingesehen hat, dass die Wahlen nur dann zu gewinnen sind, wenn die vielfältigen Wählergruppen adäquat angesprochen werden. Die CDU ist aufgewacht und hat sukzessive eine Öffnung in die migrantische Community gewagt. Und mittlerweile hat es ein Niveau erreicht, wo im Bundesvorstand der CDU, wenn ich mich nicht irre, vier Muslime Platz genommen haben. Es war die CDU in Niedersachsen, die die erste Türkin, Aygül Özkan, als Ministerin ins Kabinett aufgenommen hat. Es war Christian Wulff, der als Bundespräsident gesagt hat, dass der Islam auch zu Deutschland gehört. Und diese Öffnung wird jetzt honoriert von Seiten der Wählerinnen und Wähler.
NDR Kultur: Wie kommt es denn eigentlich, dass sich die etablierte Wahlforschung in Deutschland bisher so wenig um die Muslime gekümmert hat?
Sezer: Weil der Aufwand, denn man dafür betreiben müsste und der Ertrag, den man dafür bekommen würde, einfach in einem Missverhältnis stehen. Wir reden letzten Endes von einer Bevölkerungsgruppe, die ein Zehntel der Wahlberechtigen ausmacht. Wir haben ein Verfahren entwickelt, mit dem wir nicht nur den Anspruch erheben, aussagekräftige Ergebnisse zu gewinnen, sondern diese auch forschungsökonomisch legitimierbar sind. Wir investieren gerne in diese Gruppe, weil wir davon ausgehen, dass sie über kurz oder lang an Attraktivität und an Bedeutung zunehmen wird. Und die Erfahrungen, die wir jetzt sammeln, sind Gold wert.
Das Interview führte Claus Röck, Redaktion Religion und Gesellschaft
- Teil 1: Eine neue Studie mit interessanten Ergebnissen
- Teil 2: Das Wählerpotential der Muslime