Stand: 22.06.2016 15:53 Uhr

Wenn der Muezzin ruft - Eindrücke aus Norddeutschland

von Andrea Schwyzer

Minarette statt Kirchentürme? Muezzinrufe statt Kirchenglocken? AfD-Politiker Alexander Gauland sieht Deutschland bedroht: "Das Minarett und der Ruf des Muezzin sind für uns Ausdruck ebenjenes politischen Anspruchs an die Gesellschaft, den wir nicht haben wollen", so Gauland kürzlich in einem Interview. Solche Äußerungen entfachen erneut die Diskussion um öffentlich vorgetragene Gebetsrufe in Deutschland - die sehr selten sind.

Die Centrum Moschee in Hamburg © NDR.de Foto: Marc-Oliver Rehrmann
Grundsätzlich sind islamische Gebetsrufe in Deutschland durch das Gesetz zur Religionsfreiheit geschützt, können aber verboten werden, wenn sie als Lärmbelastung gelten.
Galerie ersetzt Minarette

Der Teppich, auf dem Hatice Öztürk steht, ist angenehm flauschig. Rot, beige und türkis. Mit Ornamenten verziert, wie auch die Kacheln an den Wänden. Die Eyup-Sultan-Moschee in Ronnenberg bei Hannover hat sogar eine Kuppel und einen prachtvollen Kronleuchter. Sie war einmal ein Fabrikgebäude. Hatice Öztürk ist stellvertretende Vorsitzende der Türkisch-Islamischen Gemeinde zu Ronnenberg. "Hier sind wir im Herzen unserer Moschee", erklärt Öztürk. "Das ist der Gebetssaal, wo wir Muslime uns fünf Mal am Tag zum Gebet treffen und gemeinsam das Gemeinschaftsgebet verrichten. Das Gebet wird von unserem Religionsgelehrten in der Funktion eines Imams, als Vorbeter, angeleitet."

Der Muezzin Muhammed Güllüce in der Galerie der Eyup-Sultan-Moschee in Ronnenberg © NDR
Wie in den meisten Moscheen in Deutschland, steht der Muezzin auch in der Eyup-Sultan-Moschee in einer Galerie.

"In dieser Moschee haben wir eine Galerie des Muezzins, also des Gebetsrufers", so Öztürk weiter. "Das ist in den meisten Moscheen in Deutschland so. Man hat diese Lösung gefunden, weil man keine Minarette bauen konnte oder durfte. In der Moschee wird der Gebetsruf ausgerufen und die Gemeinde wird dann zum Gebet eingeladen."

Sie fände es schön, wenn der Muezzin auch ab und an draußen zu hören wäre. Aber sie freut sich dafür umso mehr, wenn das beim Sommerfest einmal im Jahr der Fall ist - abgesprochen mit der Gemeinde: "Das wird uns zum Beispiel erlaubt. Das ist etwas Besonderes für uns und auch für die nicht-muslimischen Nachbarn und Freunde, weil die das dann auch erleben und dieses Gefühl mitfühlen können. Das ist einfach besonders."

Wie der Muezzinruf entstand

Die Sendung zum Nachhören
Der Muezzin Muhammed Güllüce liest aus dem Koran. © NDR
4 Min

Wenn der Muezzin ruft

Die Diskussion um öffentlich vorgetragene Gebetsrufe in Deutschland ist neu entfacht. Dabei rufen im ganzen Land höchstens 30 Moscheen öffentlich zum Gebet auf. 4 Min

Weil der Gebetsruf in den allermeisten Fällen nicht von Minaretten erklingt, behelfen sich Muslime in Deutschland oft mit einer App, die sie an das Pflichtgebet erinnert.

Laut Überlieferung verhält es sich mit dem Muezzinruf so: "Als in Medina die erste Moschee gebaut wurde, direkt nach der Auswanderung, als die Muslime dort sesshaft wurden, hat man überlegt, wie man die Menschen zum Gebet zusammenbringt", erzählt die islamische Theologin Halima Krausen. "Jemand machte den Vorschlag, dass die menschliche Stimme das Schönste wäre, zum Gebet zu rufen. Also wurde Bilal - das war damals ein freigelassener Sklave, der sich dem Islam angeschlossen hatte - beauftragt, zum Gebet zu rufen."

Die Worte des Gebetsrufs sollen beruhigen

Halima Krausen © Halima Krausen
Halima Krausen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg.

Halima Krausen lehrt an der Uni Hamburg. Zum Vorwurf von Kritikern, der Gebetsruf verkünde einen Herrschaftsanspruch oder sei gar ein Schlachtruf, sagt sie: "Das ist ja ein Missbrauch. Der Gebetsruf ist nie als Schlachtruf benutzt worden, sondern immer formal als Gebetsruf - sonst für nichts." Mit dem Satz "Allahu Akbar" verbinden viele Menschen terroristische, islamistisch-motivierte Taten und missdeuten ihn deshalb als Aufruf zum Töten. Er ist aber Teil des Gebetsrufs und seine Bedeutung eine andere, sagt Krausen: "Gott ist größer als das, was mich beschäftigt. Gott ist größer, als was ich mir von ihm vorstelle, was ich mir überhaupt vorstelle, als das, was mir im Moment wichtig zu sein scheint, größer als meine Probleme, größer als meine Sorgen. Dass man loslässt, dass man Abstand nimmt davon."

Der Gebetsruf wiederholt fünfmal am Tag dieselbe Satzfolge. Die Aussprache ist besonders wichtig. Was sich von Gebet zu Gebet verändert, ist die Länge der Töne, der Worte. Dafür hat Muhammed Güllüce eine entsprechende Ausbildung gemacht. Er wohnt seit einem Jahr in Deutschland und ist als Religionsgelehrter für Fragen rund um den Islam zuständig. Die Worte des Gebetsrufs, des Azan, sollen beruhigen, sagt der Imam. Der Azan führe zu Frieden, zu Wohlgefühl in einem Menschen. Es sei egal, ob man Muslim sei oder nicht oder ob man es verstehe oder nicht. "Man wird emotional mitgenommen, wenn jemand den Azan gut vorträgt oder aus dem Koran liest."

Übersicht
Die Kuppel des Felsendoms in Jerusalem © NDR

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 24.06.2016 | 15:20 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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