Alte Hand liegt auf dem Bauch © picture alliance / dpa | Sami Belloumi Foto: Sami Belloumi

Sterbehilfe im Islam: Zwischen Tradition und Moderne

Stand: 22.07.2022 00:01 Uhr

Der Bundestag diskutiert derzeit über ein neues Gesetz zur Suizidprävention und zum assistierten Suizid. Wie sieht diese Diskussion im Islam aus? Wie wird hier der assistierte Suizid bewertet?

von Michael Hollenbach

"Der Grundsatz ist: Maßnahmen, die aktiv zum Sterben beitragen, sind aus islamischer Sicht streng verboten," sagt die islamische Religionswissenschaftlerin Fatma Aydinli. "Der Grundsatz ist die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Wir haben ein Selbsttötungsverbot. Selbsttötung und Verlangen auf Selbsttötung wird moralisch eindeutig abgelehnt."

Und der Mediziner Muhammad Zouhair Safar Al-Halabi ergänzt: "Es gibt zahlreiche Verse im Koran und die Überlieferung des Propheten Mohammad: Der Mensch darf sich nicht töten." Dieses Suizidverbot wird theologisch begründet, erklärt Fatma Aydinli: "Unter den muslimischen Gelehrten herrscht die Einsicht vor, dass Gott das alleinige Recht hat, den Todeszeitpunkt zu bestimmen. Solange eine Aussicht auf Rettung des menschlichen Lebens besteht, besteht die Pflicht, das auch zu tun."

Leiden als Prüfung Gottes

"Das Leben ist als Vertrauensgut von Gott an den Menschen gegeben worden," sagt der Mediziner Muhammad Zouhair Safar Al-Halabi, "und er muss sein Leben und seine Gesundheit bewahren und schützen - und darf sich nicht töten." Das gelte auch für Menschen, die beispielsweise an Krebs erkrankt und austherapiert sind, nur eine geringe Lebenserwartung haben und unter Schmerzen leiden, so Aydinli: "Krankheit und Leiden wird eher als Prüfung Gottes angesehen aus der islamischen Sicht.

"Wenn jemand schwer krank ist," meint Muhammad Zouhair Safar Al-Halabi, "dann soll er nicht zu sterben wünschen, sondern Gott bitten um Unterstützung, und auch wenn er es nicht mehr ertragen kann, dass dann das Sterben von Gott kommen soll." Eine palliative Sedierung, eine Schmerztherapie am Lebensende, sei aber erlaubt, wenn sie nicht in der Absicht geschieht, ein vorzeitiges Sterben zu bewirken. Selbst das Sterbefasten, wenn ein des Lebens müder Mensch auf Essen und Trinken verzichtet, sei nur unter bestimmten Bedingungen religiös erlaubt, sagt die Religionswissenschaftlerin Fatma Aydinli: "Wenn die Person körperlich nicht mehr in der Lage ist, selbst zu essen und zu trinken, so braucht sie nicht weiter über Sonden ernährt werden. Es besteht nicht die Pflicht, bis zum Geht- nicht-mehr weiter zu leben."

Wissenschaftler uneins über religiöse Vorschriften

Aber spielen bei den Musliminnen und Muslimen hierzulande diese religiösen Vorschriften am Lebensende überhaupt noch eine Rolle? Ja, sagt der Onkologe und Palliativmediziner Muhammad Zouhair Safar Al-Halabi: "Aus meiner Erfahrung: Die Menschen in solchen schwierigen Situationen kehren zu ihren Wurzeln und Glauben zurück; und Religion spielt eine wichtige Rolle, und ein schwerkranker Moslem möchte keine Sünde am Ende seines Leben machen."

Diese Sichtweise relativiert Fatma Aydinli. Wie im Christentum gäbe es auch im Islam in Deutschland eine Tendenz zur Säkularisierung: "Neue Studien zeigen, dass Muslime mittlerweile auf Normierungen nicht mehr Wert legen. Es gibt Muslime, die sagen, ich ziehe mein Ding durch. Generell wird es strikt abgelehnt, aber man muss im Einzelfall gucken."

Einzelfallbetrachtung notwendig

Das sieht Emine Oğuz ähnlich. Sie ist Geschäftsführerin des deutsch-türkischen Islamverbandes Ditib Niedersachsen. Sie hält nichts von rigorosen religiösen Vorschriften: "Das muss man im Einzelfall betrachten, das ist individuell, wie die Familie reagiert. Das kann sein, dass die Familie sich für einen assistierten Suizid entscheidet, vielleicht ist es für sie der beste Weg, und da versuchen wir, uns nicht anzumaßen darüber zu urteilen, ob das jetzt gut oder schlecht gewesen ist."

Das klingt nach einer ähnlichen Entwicklung wie beispielsweise im Katholizismus: strenge moralische Vorgaben, aber in der jeweiligen Situation entscheidet das Individuum möglicherweise dann doch anders.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 22.07.2022 | 15:20 Uhr

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