Ein Mann wird ausgepeitscht © picture alliance / NurPhoto

Scharia - was steckt hinter dem Schreckenswort?

Stand: 07.12.2021 11:16 Uhr

Der Begriff Scharia steht für viele Laien für ein unmenschliches Rechtssystem, was im Namen Gottes Ungläubige tötet. Doch die Scharia ist kein kodifiziertes Gesetzbuch mit einer Liste von Strafen. Was genau steckt hinter dem Wort?

von Heide Soltau

Viele zucken beim Wort Scharia zusammen. Was ist das für ein unmenschliches Rechtssystem, das, so scheint es, im Namen Gottes Ungläubige tötet, Ehebrecherinnen steinigt und Dieben die Hände amputiert? Serdar Kurnaz, Professor für Islamische Theologie, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Es gebe nicht die eine Scharia, sondern nur die Auffassung der Gelehrten, was die Scharia sein könne: "Das Rechtssystem deckt nur einen Teil der Scharia ab, und dies sind eigentlich nur Ableitungen von Menschen, die in einem gewissen Kontext gelebt haben. Man kann nicht einfach sagen, das ist ein abgeschlossenes System, sondern es ist aushandelbar, es ist diskutierbar. Es gilt nur zu dechiffrieren, was aushandelbar ist und was diskutierbar ist, vor allem im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen."

Die Scharia ist kein kodifiziertes Gesetzbuch

Scharia sei etwas Abstraktes und theologisch nicht genau zu definieren, so hat es Kurnaz einmal etwas weniger verschwurbelt formuliert. Festzuhalten ist: Es handelt sich bei der Scharia nicht um ein kodifiziertes Gesetzbuch. Scharia lässt sich als eine vom Glauben geprägte Lebensform bezeichnen, die in verschiedenen Texten, auch im Koran, also der heiligen Schrift der Muslime, beschrieben wird. Diese zum Teil schwer verständlichen Texte sind dann im Laufe der Zeit von den zahlreichen Gelehrten interpretiert und ausgelegt worden.

Nora Kalbarczyk und Serdar Kurnaz bei der Veranstaltung "Scharia" in der Katholischen Akademie Hamburg © Katholische Akademie Hamburg
Nora Kalbarczyk und Serdar Kurnaz bei der Veranstaltung "Scharia" in der Katholischen Akademie Hamburg

"Bei der Auslegung ist das Schwierige: Die Rechtsgelehrten müssen entscheiden, welche Aussagen auf Mohammed zurückführbar sind, oder von denen behauptet wird, dass Mohammed sie geäußert hat", erläutert Kurnaz. "Sie haben viele Momente, wo der Mensch seine Gedanken, die er für recht und billig hält, in die Texte hineinliest. Und muslimische Gelehrte sind sich dessen bewusst, versuchen eine Rechtsmethodik zu etablieren, die diese Gefahren unterbindet. Aber sie sind sich auch dessen bewusst, dass man eine vollständige Objektivität nicht haben kann."

"Nicht alles, was im Koran steht, muss auch umgesetzt werden"

Es gab in der Geschichte verschiedene Schulen, die sich mit der Auslegung befasst haben. Es hat nie nur eine einzige Sichtweise auf den Islam gegeben, er repräsentierte immer religiöse Vielfalt. Doch beginnend mit dem 19. Jahrhundert ging die Pluralität des theologischen Wissens langsam verloren, sodass heute vielfach von einer Einheit die Rede ist und diese Einheit von vielen Gemeinden auch betont wird. Hinzu kam, dass eine Minderheit von Muslimen darauf beharrte, aus dem Koran objektiv den Willen Gottes ableiten zu können, sagt Kurnaz: "Ich bin der Meinung, dass der Koran keine universellen, endgültigen, konkreten Rechtsvorstellungen verkündet, sondern nur das, was damals auf der arabischen Halbinsel war, bestätigt als eine Anwendungsmöglichkeit."

verschleierte muslimische Frau  Foto: FAROOQ NAEEM
AUDIO: Scharia - was steckt hinter dem Schreckenswort? (5 Min)

Dazu gehören auch die sogenannten Körperstrafen wie Handamputationen und Steinigungen. Der Koran hat sie nicht etwa erfunden: Als die heilige Schrift im sechsten bis siebten Jahrhundert nach Christus geschrieben wurde, waren Handamputationen und Steinigungen gängige Praxis. "Aber nicht alles, was im Koran steht, muss auch umgesetzt werden", betont Kurnaz. Und wenn heute Staaten wie Brunei Homosexuellen mit der Todesstrafe drohen, findet er deutliche Worte: "Dann sage ich: Ja, der Koran wird, wie es da praktiziert wird, missverstanden und somit auch Gott."

"Eine Fratze des Islams"

Die Islamwissenschaftlerin Nora Kalbarczyk vom Katholischen Akademischen Ausländer-Dienst schließt sich der Kritik an: "Das ist ein politisches Phänomen, weniger ein theologisches, weil man in der islamischen Theologie eigentlich weiter ist als das, was man da jetzt an Vereinfachung sieht. Es wäre falsch zu sagen, es hat nichts mit dem Islam zu tun, aber gleichzeitig ist das aus meiner Perspektive eine Fratze des Islams."

Diese Fratze verzerrt vielfach auch unser Bild vom Islam und führt nur dazu, pauschale Urteile über ihn zu fällen. Aus dem Koran lässt sich Vieles ableiten. Das verwirrt. Umso wichtiger sind Gespräche und Veranstaltungen wie die in der Katholischen Akademie Hamburg. "Je mehr man über die Pluralität der Tradition spricht, desto mehr werden sich die Muslime trauen, über diese Pluralität zu sprechen und diese dann wiederzuentdecken", meint Kurnaz.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 26.04.2019 | 15:20 Uhr

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