Reform und Identität: Eine islamische Perspektive
Am 31. Oktober erinnern Protestanten in aller Welt an die Reformation vor rund 500 Jahren. Heute fordern viele Christen wieder Reformen und Erneuerung. Und wie sieht es im Islam aus?
Ein Gastkommentar von Mouhanad Khorchide.
Reform bedeutet Wandel. Und wenn es um Religion geht, bedeutet Reform das kritische Hinterfragen von Positionen, die bislang als fixer Bestandteil der eigenen religiösen Tradition galten. Solche Traditionen sind allerdings stark identitätsstiftend. Sie zu hinterfragen kann daher zur Irritation der eigenen religiösen Identität führen. Im Falle der Muslime in Europa ist Reform noch stärker mit Identitätsverunsicherung verbunden als in (mehrheitlich) muslimisch geprägten Ländern.
Denn als religiöse Minderheit in einer nicht muslimischen Mehrheitsgesellschaft klammern sich viele an althergebrachte Traditionen, über die sie sich als Muslime identifizieren. Man denke zum Beispiel an patriarchalische Einstellungen, die Frauen als den Männern unterlegen ansehen, oder die Ablehnung von Homosexualität bzw. die Skepsis mancher, wenn es um Geschlechterdiversität geht.
Reformen im Islam haben Tradition

Zum Teil gelten solche Aspekte als nicht verhandelbar und werden daher meist tabuisiert. Religionen, dazu gehört auch der Islam, sind allerdings nicht vom Himmel gefallen, sie haben sich vielmehr im Laufe von Jahrhunderten entwickelt und tun dies heute noch. Reform bedeutet, die Plausibilität und den Lebensbezug religiöser Traditionen immer wieder neu zu hinterfragen. Dieser Prozess setzt jedoch Selbstsicherheit und einen hohen Grad an Reflektionsvermögen voraus. Daher benötigen Reformen religiöse Bildung, in der es nicht um das Eintrichtern von absoluten Wahrheiten geht, sondern um das Befähigen zur Mündigkeit in religiöser Hinsicht. Dies betrifft zum Beispiel den Umgang mit dem Koran. Eine zeitgemäße Lesart des Korans verlangt von Muslimen, seine Aussagen in ihrem historischen Kontext zu verorten.
Die Gewaltaussagen im Koran beschreiben zum Beispiel bestimmte kriegerische Situationen im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel, stellen aber keineswegs Imperative an die heutigen Muslime dar. Die historische Kontextualisierung des Korans würde auch solche Aussagen entschärfen, die aus unserer heutigen Sicht patriarchalisch und daher frauenbenachteiligend klingen. Dass der Koran den Frauen Erbanteile zuspricht, war für den damaligen Kontext ein revolutionärer Schritt. Da diese Erbanteile jedoch nicht denen der Männer entsprechen, gelten solche koranischen Aussagen aus unserer heutigen Perspektive als frauenbenachteiligend.
Verschiedene Perspektiven auf den Islam
Der Koran, wie ich ihn verstehe, gab den Menschen im siebten Jahrhundert die Richtung der Veränderung ihrer Gesellschaft, er wollte sie sukzessive befreien. Die Frauen sollten schrittweise ihre Unabhängigkeit von den Männern erlangen, der Koran beschreibt allerdings nur erste Schritte.
Bleiben Muslime bei diesen stehen, dann müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, der Islam sei eine frauenfeindliche Religion. Verstehen Muslime hingegen den Koran als richtungsweisend im Sinne der Befreiung des Menschen, dann würden sie seine Aussagen als erste Schritte eines langen Prozesses lesen.
Islam von der Geiselnahme durch Politik befreien
Eine Reform des Islams ist deshalb notwendig, um weitere Schritte Richtung Subjektwerden des Menschen zu vollziehen. Die Entwicklung des Islam ist also keineswegs abgeschlossen, er ist so lange lebendig und so lange im Wandel begriffen, wie er Anhänger hat, die ihn in ihr Leben integrieren wollen, und zwar im Sinne seiner Befreiungsbotschaft. Es gilt, diese Botschaft immer wieder zu aktualisieren und daher ständig nach neuen, zeitgemäßen Interpretationen des Islams zu fragen.
Eine Reform ist heute auch deshalb notwendig, um den Islam von der Geiselnahme durch die Politik zu befreien. Nur durch ständige Reformen kann der Islam seine Befreiungspotentiale, aber auch seine Spiritualität im jeweiligen historischen Kontext entfalten.
