Stand: 02.11.2016 15:50 Uhr

Nur kein Mitleid!

Was muslimische Frauen am wenigsten brauchen

Vom "Dialog auf Augenhöhe" ist heutzutage viel die Rede. Zwischen Nichtmuslimen und Muslimen etwa. Im Alltag jedoch, in den Gesprächen und Diskussionen, sind wir oft noch weit davon entfernt. Gerade wenn es um muslimische Frauen geht.

Ein Kommentar von Canan Topcu

Diskussionen über muslimische Frauen bringen mich auf die Palme! Viele reden so, als wüssten sie supergut Bescheid über uns. Für sie steht auch ohne genaue Kenntnisse fest, dass der Islam eine frauenfeindliche Religion ist und der Koran dem weiblichen Geschlecht kaum Rechte zugesteht.

Wenn dann auch noch Leute aus der Mehrheitsgesellschaft - insbesondere Frauen - Mitleid mit Musliminnen haben, werde ich pampig. Ich empfinde diese Art als unglaublich arrogant und herablassend. Sie verursacht bei mir jedes Mal einen Gefühlscocktail aus Wut und Ärger, aus Mich-Angegriffen-Fühlen und Mich-Verteidigen-Müssen.

Missstände kein religiöses Problem

Dabei will ich gar nichts verteidigen und schon gar nicht bestreiten, dass es in so manch einem islamischen Land schlecht steht um die Rechte der Frauen. Wie etwa in Saudi Arabien, wo sie in Ganz-Körper-Verhüllung mit Augenschlitz auf die Straße müssen und kein Auto fahren dürfen. Zweifelsohne gibt es auch hier unter uns Töchter und Frauen aus muslimischen Familien, die an einem selbstbestimmten Leben gehindert werden.

Über die Autorin

Die Journalistin und Autorin Canan Topçu, 1965 in der Türkei geboren, lebt seit ihrem achten Lebensjahr in Deutschland. Nach ihrem Studium absolvierte sie ein Volontariat bei der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung". Danach war sie Redakteurin bei der "Frankfurter Rundschau". Sie arbeitet nun freiberuflich für Hörfunk, Print- und Online-Medien. Spezialisiert hat sie sich auf die Themen Integration, Migration, Islam und muslimisches Leben in Deutschland. Außerdem ist sie Dozentin - u.a. an der Hochschule Darmstadt.

Woran ich mich trotz dieser realen Missstände störe, ist die bevormundende Haltung der Kritikerinnen und Kritiker. Sie ignoriert komplett, dass bis vor gar nicht so langer Zeit auch im "christlichen Abendland" die Gleichberechtigung von Frauen und Männern alles andere als selbstverständlich war. Um es mal in Erinnerung zu rufen: Noch bis 1958 durften hierzulande Ehemänner die Arbeitsverträge ihrer Frauen kündigen, wenn sie nicht wollten, dass sie arbeiteten. Das ist keine 60 Jahre her! Zu verdanken ist die Gleichberechtigung einer im Verhältnis relativ kleinen Gruppe von Frauen, die sich mit dem Status Quo nicht abfinden wollte. Die so hochgepriesene Gleichberechtigung ist also auch in Deutschland keineswegs vom Himmel gefallen, sondern sie ist hart erkämpft.

Wer sich über das Geschlechterverhältnis in islamisch geprägten Gesellschaften auslässt, sollte sich im Klaren darüber sein, dass die Ungleichbehandlung von Frauen weniger mit Religion, sondern viel mehr mit patriarchalischen Strukturen zu tun hat. Und diese Strukturen gibt es - leider Gottes - überall auf der Welt!

Kein Dialog auf Augenhöhe

Die Sendung zum Nachhören
Canan Topcu © Canan Topçu Foto: Christoph Boeckheler
3 Min

Nur kein Mitleid!

Was muslimische Frauen am wenigsten brauchen. Ein Kommentar von Canan Topcu. 3 Min

Übrigens: Dass die Bibel geschlechtergerecht interpretiert wird, ist vor allem christlichen Feministinnen zu verdanken. An einer Auslegung des Korans, in der Frauen gleichberechtigt sind, arbeiten muslimische Frauenrechtlerinnen - hier in Deutschland und auch anderswo.

Die Fokussierung auf den Islam und das Gegenüberstellen von gleichberechtigt und unterdrückt, von aufgeklärt und rückständig, von selbstbestimmt und abhängig, versperrt die Sicht auf die sehr vielfältigen Lebensentwürfe muslimischer Frauen. So kommt kein Dialog auf Augenhöhe zustande, sondern bestenfalls Mitleid. Und das nervt.

Weitere Informationen
Ein islamisches Paar sitzt auf einer Parkbank. © Imago

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 04.11.2016 | 15:20 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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