Stand: 16.07.2020 14:56 Uhr

Mouhanad Khorchide: "Das ist höchster Verrat am Islam"

von Susanne Birkner

"Islam ist Barmherzigkeit" - mit diesem Buch hat Mouhanad Khorchide 2012 seine Glaubensbrüder so provoziert, dass er seitdem öffentlich nur noch unter Polizeischutz auftreten kann. Auch in seinem aktuellen Buch "Gottes falsche Anwälte. Der Verrat am Islam" tritt der Münsteraner Professor für eine historisch-kritische Koranauslegung ein.

Mouhanad Khorchide © picture alliance / dpa Foto: Uwe Zucchi
In seinem aktuellen Buch geht es Mouhanad Khorchide um innerislamische Aufklärung.

"Mit meinem Buch möchte ich alle Interessierten für das Thema Islam erreichen", sagt Mouhanad Khorchide. "Sowohl Muslime, als auch Nicht-Muslime, und vor allem diejenigen, die bereit sind, out of the box zu denken, über das Bekannte hinaus Dinge zu reflektieren. In dem Buch schockiere ich die Leser mit vielen Analysen, die unser Islambild auf den Kopf stellen."

Der Mensch als selbstbestimmtes Individuum

Es geht Mouhanad Khorchide um innerislamische Aufklärung. Viele gläubige Muslime dächten, sie seien Objekte des Gehorsams. Das Gott-Mensch-Verhältnis eine Unterwerfungsbeziehung. Der Münsteraner Professor möchte das Bild des Menschen als selbstbestimmtes Individuum in den Mittelpunkt rücken. Und zwar: "Innerhalb der islamischen Theologie, das ist mir wichtig. Das ist nichts Aufgesetztes, von oben oder politisch motiviert."

Buchcover: Mouhanad Khorchide- "Gottes falsche Anwälte. Der Verrat am Islam" © Herder Verlag
Das Buch "Gottes falsche Anwälte. Der Verrat am Islam" ist im Herder Verlag erschienen und kostet 22,00 Euro.

Schlüssig beschreibt der Islamwissenschaftler im ersten Teil des Buches, dass die Macht- und Unterwerfungsstrukturen nicht im Koran angelegt, sondern politisch gewachsen sind. Die ersten Kalifen hätten nach dem Tod des Propheten ein Interesse daran gehabt, als Sprecher Gottes wahrgenommen zu werden. Und Gehorsam ihnen gegenüber galt dementsprechend dann als Gehorsam gegenüber Gott. Diese kritiklose Unterwerfung unter einen Herrscher dauere bis heute in vielen islamischen Ländern an, so Khorchide. Und das sei der titelgebende "Verrat am Islam".

"Ich sehe Religion als Prozess"

"Die Verkündigung Mohammeds war alles andere als eine auf Macht hinausgehende Verkündigung, sondern es war eher eine spirituelle Botschaft", erklärt Khorchide. "Und daraus wird plötzlich ein Politikum gemacht. Das ist höchster Verrat am Islam. Und deswegen ist das keine Provokation, wenn ich diesen Begriff verwende, sondern spiegelt das wider, was ich im Buch auch belege, wie der Verrat stattgefunden hat, seit dem siebten Jahrhundert bis zum heutigen Tag."

Wurde also der Islam also seit dem siebten Jahrhundert falsch interpretiert? "Ich würde nicht in den Kategorien richtig und falsch agieren", so Khorchide. "Es wäre Anmaßung, wenn ich sage, das ist jetzt richtig, und 1.400 Jahre lang haben es alle falsch verstanden. Sondern ich sehe Religion als Prozess. Und ich meine, dass die politischen Machtinteressen bis jetzt bei der Entwicklung des Islams das letzte Wort gesprochen haben."

Wie kann innerislamische Aufklärung heute aussehen?

Khorchide tritt in seinem Buch für eine historisch-kritische Koranauslegung ein. Wenn etwa im Koran Mädchen nur halb so viel vom Erbe zugesprochen bekommen haben wie die Jungen, dann sei das in den patriarchalen Strukturen des siebten Jahrhunderts durchaus ein Fortschritt gewesen: "Wenn die Mädchen die Hälfte bekommen haben, dann nur deshalb, weil sie vorher gar nichts bekommen haben. Nur die Frage ist: Bleiben wir bei diesem ersten Anstoß stehen oder verstehen wir den Koran in seiner Offenheit, dass wir sagen: Für das siebte Jahrhundert war das eine positive Entwicklung, aber wenn wir dabei stehenbleiben, ist es eine katastrophale Entwicklung."

Prof. Dr. Mouhanad Khorchide

Mouhanad Khorchide, geboren 1971 im Libanon, ist Leiter des Zentrums für Islamische Theologie und Professor für Islamische Religionspädagogik an der Wilhelms-Universität Münster. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter eines zeitgenössischen, liberalen Islam im deutschsprachigen Raum.
Bekannt wurde er u.a. als Autor des Buches "Islam ist Barmherzigkeit: Grundzüge einer modernen Religion" (Herder 2012).

Im zweiten Teil des Buches beschreibt Khorchide deshalb, wie innerislamische Aufklärung heute aussehen könnte. Mit der Rückbesinnung auf einen Gott, der die Freiheit des Menschen würdigt und barmherzig ist. Mit einer Absage an Angst und Bedrohung, gerade in der Erziehung. Und einer Entsexualisierung der Geschlechterrollen: "Wenn Frauen sich selbst auf ein sexuelles Objekt reduzieren, sich unterwerfen lassen und nicht rebellieren, dann tragen sie auch dazu bei, diese Unterwerfungsstrukturen zu reproduzieren."

Ein alternatives Islambild

Das neue Buch von Mouhanad Khorchide wird nicht allen gefallen. Und es ist in seiner Botschaft an manchen Stellen etwas redundant. Aber wie kenntnisreich der Soziologe und Islamwissenschaftler aus der Geschichte heraus erklärt, wie sich bestimmte Strukturen innerhalb der Religion entwickelt haben und bis heute halten, ist unglaublich spannend zu lesen - vor allem, weil er erfreulich verständlich schreibt. Und für die vielen Musliminnen und Muslime, die insbesondere seit dem Aufkommen der Terrororganisation Islamischer Staat mit ihrem Glauben hadern, wie eine BBC-Studie ergeben hat, bietet Khorchide ein alternatives Islambild an, das viele dankbar und befreit aufnehmen dürften.

Ein Koran auf Koranständer und einem Gebetsteppich in einer Moschee. © NDR Foto: Julius Matuschik
AUDIO: Mouhanad Khorchide: "Das ist höchster Verrat am Islam" (5 Min)
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Mouhanad Khorchide © WWU / Peter Grewer

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NDR Kultur | Freitagsforum | 17.07.2020 | 15:20 Uhr

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