LGBTQI im Islam: Wer gehört zum "Wir"?
"Wir gesucht! Was hält uns zusammen?", fragt die ARD Themenwoche. Zu welchem "Wir" gehören Muslim*innen, die diverse sexuelle Identitäten leben? Welche Rolle spielt die sexuelle Orientierung in ihrem Alltag?
"Für das Mädchen, das sich wünschte ein Junge zu sein." Mit dieser Textzeile aus "Baraye" - dem Song, der momentan vor allem durch die Protestbewegung im Iran bekannt ist - thematisiert der iranische Liedermacher Shervin Hajipour auch Tabuthemen in Teilen der muslimischen Welt: die sexuelle Orientierung und vielfältige Geschlechteridentitäten. Auch in der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland ist sind die Themen heikel. Nur wenige queere Musliminnen und Muslime möchten öffentlich darüber sprechen.
Marco Linguri lebt offen als trans Mann
Anders ist das bei Marco Linguri. Er ist ein trans Mann. Bei seiner Geburt wurde er weiblich zugeordnet, sagt Linguri, aber eigentlich ist er männlich. Und der 32-Jährige ist Muslim. Er engagiert sich im Vorstand des Liberal-Islamischen Bunds. "Ich habe tatsächlich keine einzige muslimische Person in meinem Umfeld, die nicht akzeptiert, wie ich bin. Was nicht heißt, dass es keine Queerfeindlichkeit in der muslimischen Community geben würde. Das ist klar. Aber die gibt es auch in allen anderen Teilen der Gesellschaft", sagt Linguri.
Linguri ist als Imam tätig und berät auch andere Musliminnen und Muslime mit diversen sexuellen Orientierungen und Geschlechteridentitäten. Dort höre er oft auch von Zurückweisungen, aber das habe nicht ausschließlich etwas mit dem Glauben zu tun: "Dieses konstante 'etwas anderes Sein', zu etwas anderem gemacht werden, sich immer wieder erklären zu müssen: Ich glaube, das ist das Kernthema. Das kann auf einer Glaubensebene sein, das ist aber auch an ganz vielen Stellen nicht auf einer Glaubensebene."
Transident und muslimisch: Lässt sich das vereinbaren?
Die Transidentität an sich werde auch von manchen anderen muslimischen Verbänden nicht als Sünde wahrgenommen, so Linguri. Es gehe um die Frage der körperlichen Unversehrtheit bei geschlechtsangleichenden Operationen, aber dabei würde er sich auf die Expertise von Medizinerinnen und Medizinern verlassen. Lassen sich beide Identitäten also vereinbaren: trans und muslimisch zu sein?
"Für mich gibt es da nichts zu vereinbaren oder sonst irgendwas, weil Allah mich genauso geschaffen hat, wie ich bin", erklärt Linguri und fährt fort: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Fehler gibt in seiner Schöpfung. Also kann ich als Transmann kein Fehler sein oder sonst irgendwas, sondern für mich bin ich wie alle andere queeren Muslim*innen ein schöner Bestandteil der Schöpfung Gottes wie jede*r andere Person auch."
Homosexualität gilt in einigen Verbänden als Sünde
Bei Homosexualität wird es kontroverser: In einigen Verbänden gilt sie als Sünde, sagt zum Beispiel ein Sprecher der Schura in Niedersachsen, des Landesverbands der Muslime. Er begründet das mit dem Koran und der Sunna, also den gesammelten Überlieferungen über das Verhalten und über Aussprüche des Propheten Mohammed. Daher sei das Thema Homosexualität in den Gemeinden wahrscheinlich nicht sehr präsent, aber man verfolge die Debatte aufmerksam. Und es gebe keinen Zwang zum Glauben, jedes Individuum sei frei darin, seine Lebensweise zu gestalten.
Aus Sicht des Liberal-Islamischen Bundes ist das eine Auslegung, die im Laufe der Geschichte erst entstanden sei und nicht den Kontext der zitierten "Lot"-Geschichte im Koran wiedergebe. "Es gab queere Personen auch zur Zeit des Propheten und auch später noch: Der Begründer der Hadith-Wissenschaften, Ibn Ḥajar al-ʿAsqalānī, war zum Beispiel schwul“, erklärt der junge Imam.
Früher mehr Akzeptanz für queere Muslim*innen?
Zwar ließen sich heutige Begriffe nicht einfach auf die frühislamische Zeit übertragen - und auch die Gesellschaften hätten sich verändert und seien nicht mit heutigen Demokratien vergleichbar. Aber es gab damals bereits queere Muslim*innen, sagt Linguri, und die hätten ihr Leben fast unbehelligt führen können. Darüber hinaus seien einige homoerotische Quellen auch aus dem Kanon verschwunden, insbesondere während der Kolonialzeit. Der Liberal-Islamische Bund fordert deswegen einen erneuten "Idschtihad", einen Prozess der Interpretation islamischer Quellen, um neue Normen zu finden.
"Es gibt in der muslimischen Community nicht so etwas wie einen Papst, der sagt, wie ‚der Islam‘ zu einem bestimmten Thema steht. Es gibt Gott sei Dank kein Thema, wo es nicht wenigstens auch noch Punkte gibt, wo man miteinander argumentieren kann. Das ist schön, dass wir unseren Glauben gegenseitig so kennenlernen können", findet Linguri.
Aber vor allem komme es darauf an, dass die Menschen im eigenen Umfeld einen akzeptieren, sagt Marco Linguri. Der 32-Jährige möchte daher weiter über diverse sexuelle Identitäten informieren, damit es keinem Kind künftig so gehe wie ihm: 20 Jahre lang habe er nicht gewusst, wie er mit seiner Transidentität umgehen soll.
Der Liberal-Islamische Bund e.V. bietet eine Beratungsstelle für queere Muslim*innen an.