Islamismus: Neue Forschungsstelle in Münster untersucht Hintergründe
Demonstrationen wie die der islamistischen Gruppe "Muslim interaktiv" an den vergangenen Wochenenden in Hamburg zeigen: Wir brauchen mehr Wissen über den aktuell gelebten Islam.
Genau das will die neue Forschungsstelle "Islam und Politik" an der Universität Münster anbieten - theoretisch informiert und empirisch erhoben. Die Forschungsergebnisse sollen unter anderem Grundlage für politische Beschlüsse werden.
Mouhanad Khorchide: "Es gibt Anlass zur Sorge"
"Allah ist groß", skandieren sie, und sie wollen einen Gottesstaat, ein Kalifat. Szenen der Islamisten-Demo Ende April in Hamburg. Zwei Wochen später kommen wieder 2.300 Menschen, fast nur Männer, zusammen. Forderungen nach einem Kalifat sind dieses Mal verboten, die Veranstalter sprechen darum von Zensur.
Mouhanad Khorchide, Islamprofessor in Münster, blickt besorgt auf die Bilder aus Hamburg. Für ihn gibt es großen Handlungsbedarf: "Natürlich gibt es Anlass zur Sorge. Vor allem hat es mich irritiert, dass das junge Menschen sind, die zum Errichten eines Kalifats rufen, weil sie wissen, dass es cool ist, etwas anders zu wollen. Aber wollen sie wirklich jetzt in einem Kalifat leben, wenn man zum Beispiel an das Leben unter den Taliban denkt? Gerade wenn man unter diesen Demonstranten auch junge Frauen sieht."
Die Hintergründe dieser Demonstrationen zu untersuchen, die Ideologie und die Motive der Teilnehmer zu beleuchten, das haben sich Professor Khorchide und seine Mitarbeiter*innen von der Forschungsstelle "Islam und Politik" an der Uni Münster vorgenommen. Die Stelle wurde gerade erst offiziell eröffnet; Demos wie in Hamburg zeigen, dass es allerhöchste Zeit dafür war. "Vor allem, wenn man sieht, dass junge Menschen da mitmachen, ohne zu durchschauen, dass islamistische Gruppierungen, Hizb ut-Tahrir-Ideologien dahinter stehen, die zum Kalifat rufen und die seit 2003 ein Betätigungsverbot in Deutschland haben. Das ist irritierend und beängstigend", findet Khorchide.
Nimmt die Radikalisierung zu?
Die Bilder aus Hamburg zeigen hunderte wütend schreiende Männer - junge Menschen, die sich als Ausgeschlossene aus der Mehrheitsgesellschaft sehen, meint Professor Mouhanad Khorchide: "Im Sinne von: Wir Unterdrückten müssen zusammenhalten. Es wird diskriminiert. Begriffe wie 'Kolonialmächte' und 'der weiße Mann' werden verwendet, sodass die zum Teil Sympathien von Naiven aus der linken oder anderen Szenen bekommen, die meinen: Oh, die Opfer, die Muslime, die Armen - wir müssen uns mit ihnen solidarisieren. Sie werden unterdrückt von Mehrheitsgesellschaften, vom Westen."
Aber was genau ist der Grund, dass radikale Religionsvorstellungen auf so fruchtbaren Boden fallen? Sarah Demmrich ist Religionspsychologin und stellvertretende Leiterin der Forschungsstelle "Islam und Politik". Sie hat empirische Untersuchungen zur Einstellung von Muslimen in Deutschland gemacht. Nimmt die Radikalisierung zu? "Was auf jeden Fall stimmt, ist, dass es mehr an die Oberfläche kommt. Es wird sichtbarer. Radikale Gruppen trauen sich mehr, Demonstrationen anzumelden. Repräsentative Befragungen zeigen: Fünf bis zehn Prozent der Muslime in Deutschland stimmen solchen radikalen Aussagen zu, wie zum Beispiel: 'Ungläubige sollten getötet' werden."
Islamistische Gruppierungen nutzen TikTok und Co.
Vor allem muslimische Jugendliche mit niedrigerem Bildungsgrad fühlten sich stark von einer radikalen Auslegung des Islam angezogen. Und: Nicht zuletzt wissen islamistische Gruppierungen wie "Generation Islam" oder "Muslim interaktiv" sehr gut, wie man über TikTok und Co. Jugendliche ansprechen kann. "Die ganzen TikTok-Videos sind an die Jugendlichen sehr gut adressiert, weil da eine adaptive Sprache genutzt wird. Dieser Sprache ist man nur mächtig, wenn man auch eine ähnliche Sozialisation erfahren hat", sagt Abdel Karim Senel, ebenfalls Mitarbeiter bei der Forschungsstelle "Islam und Politik". "Zum Beispiel 'Brüder', 'Geschwister' - das ist eine sehr geläufige Redensart in dieser Kultur." Und trifft einen Nerv, so die Forscher in Münster.
Handreichungen an die Politik geplant
Ihre Erkenntnisse - übrigens auch zum positiven Engagement von Muslimen - sind auch in der Politik gefragt, zum Beispiel im Innenministerium. Professor Khorchide und seine Mitstreiter werden demnächst auch Handreichungen zum politischen Islam veröffentlichen. Es gibt noch viel Informationsbedarf, so der Leiter der Forschungsstelle: "Hamas ist ja ein Ableger der Muslimbruderschaft, und die Terroranschläge in Israel haben ihre unmittelbaren Auswirkungen auf uns hier in Europa und auf die Integration, auf das Zusammenleben in Deutschland. Ich kenne bisher keine entsprechende Forschungseinheit in Deutschland, die versucht, das Phänomen Islampolitik aus verschiedenen Winkeln zu analysieren."
In Münster wollen sie es jetzt tun, die Herausforderungen sind groß.
