Fußball und andere Götter
Fans pilgern ins Stadion, verehren manche Spieler wie Heilige, geben vielleicht sogar eine Art Glaubensbekenntnis ab. Inwieweit es tatsächlich Parallelen gibt zwischen Fußball und Religion - darüber kann man streiten. Sicher ist: Die Begeisterung und Leidenschaft für diesen Sport ist unter muslimischen Fans besonders groß.
Eine Glosse von Kerim Pamuk
Die meisten Orientalen würden sich als Muslime bezeichnen, die in mehr und öfter minder starker Ausprägung an Gott glauben. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie auch Monotheisten sind. Denn etwa 120 Prozent aller Männer und 85 Prozent aller Frauen beten neben Allah noch einen anderen Gott an: Fußball. Die restlichen 15 Prozent der Frauen sind vernarrt in endlose Seifenopern, bei denen man schon nach der dritten Folge nicht mehr weiß, wer wen warum liebt, nicht liebt und wer wessen verschollener Sohn oder Tochter ist.
Zwischen grenzenlosem Jubel und wildester Enttäuschung
Kein anderes Thema erregt die Muslime wie Fußball, egal wo sie leben. Wobei das Pendel nur zwei Positionen kennt: grenzenloser Jubel oder wildeste Enttäuschung. Dazwischen gibt es nichts. Man konnte das wieder wunderbar während der Vorrunde der Europameisterschaft in Frankreich beobachten. Als die türkische Mannschaft ihr erstes Spiel gegen Kroatien verlor und eine ernüchternde Leistung bot, wurde sie medial in der Luft zerfetzt, und wirklich jeder Fan konnte ganz genau aufzählen, was die Mannschaft alles falsch gemacht hatte. Beim zweiten Spiel gegen Spanien, als die Mannschaft nach 30 Minuten bereits 0:1 zurücklag, ging die Empörung so weit, dass der türkische Kapitän Arda Turan bei jeder Ballberührung ausgepfiffen wurde - von den eigenen Fans wohlgemerkt. Aufmunternden Applaus bekam der Arme von den spanischen Anhängern.
Durch die Niederlage gegen Spanien und das fragwürdige Verhalten der eigenen Fans wurde der Fußball mal wieder zur Staatsaffäre, und der allwissende und allmächtige türkische Staatspräsident sah sich zum Eingreifen genötigt. Mit beschwichtigenden und versöhnlichen Worten forderte er sein Volk auf, die türkische Mannschaft doch bitteschön bedingungslos zu unterstützen. Und wann hat man zuletzt den türkischen Staatspräsidenten beschwichtigend und deeskalierend eingreifen sehen? Aber es ging ja auch um Fußball.
Es geht um weit mehr als um Leben und Tod
Wer jetzt denkt, türkische Fans seien fanatisch, sollte einen Blick nach Ägypten werfen. Dort starben letztes Jahr 19 Menschen bei einem Derby zweier Mannschaften aus Kairo. Nur einen Monat vorher hatte der Staat ein erst dreijähriges Stadionverbot für alle Erstligaspiele aufgehoben. Anlass für das mehrjährige Stadionverbot war ein Spiel in Port Said im Jahr 2012 gewesen. Nach dem Match waren bei schwersten Ausschreitungen 74 Menschen gestorben. Ob das der legendäre Trainer des FC Liverpool, Bill Shankly, gemeint hat, als er sagte, dass es beim Fußball um weit mehr geht als um Leben und Tod?
Mitfeiern, mitleiden und mitgewinnen
Die türkische Nationalmannschaft ist leider nach der Vorrunde ausgeschieden. Sie hat aber das Turnier mit einem versöhnlichen Sieg gegen Tschechien beendet. Was die Anhänger natürlich zum Anlass für stundenlange Autokorsos und Hupkonzerte nahmen und so den Verkehr in manchen deutschen Innenstädten zeitweise lahmlegten. Vermutlich ahnten sie schon, dass es nicht mehr Siege für ihr Team zu feiern geben würde. Aber die meisten von ihnen werden sich nicht lange grämen und am Samstag die deutsche Mannschaft im Viertelfinale gegen Italien lauthals anfeuern. Denn glücklicherweise ist "La Mannschaft" inzwischen ein schönes Abbild der Gesellschaft und viele können sich wunderbar mit deutschen Spielern wie Boateng, Özil, Khedira und Mustafi identifizieren. Sie werden am Samstag mitfeiern, mitleiden und am Ende hoffentlich mitgewinnen.
