Demenz und Islam: Besuch in einer muslimischen Familie
Allein in Deutschland leben etwa 1,6 Millionen Demenzerkrankte - darunter auch viele Muslime. Für den Umgang mit der Krankheit ist es wichtig, Traditionen, Rituale und Religion der Erkrankten zu kennen.
An den Wochenenden mit den beiden Enkeltöchtern zu frühstücken, zu lachen und zu singen - für diese Momente lebt ihre 80-jährige Mutter Neriman, sagt Arzu Deniz. "Ich glaube, das gibt ihr Lebensmut, sobald die Kinder da sind. Das hält sie am Leben und deswegen ist es für mich undenkbar, sie irgendwo hinzugeben. Da würde sie mir eingehen. Wenn die Kleine zu ihr geht und kuscheln möchte, dann blüht sie auf, dann sagt sie 'ölürüm senin yoluna oder kurban olurum': 'Ich würde für dich sterben'", berichtet Arzu Deniz.
Neriman Deniz war 34 Jahre alt, als sie nach Deutschland kam. Als der Ehemann vor rund vierzig Jahren starb, hat sie sich allein mit den drei Kindern als Fabrikarbeiterin durchgeschlagen. Heute erinnert sie sich kaum noch an die Zeit, sie ist dement. Für ihre Tochter Arzu und ihren Schwiegersohn Halil stand es außer Frage, dass sie Arzus Mutter zu sich holen: "Das gehört zu unserer Religion und zu unserer Tradition dazu, dass man sich um ältere Leute kümmert. Das haben wir als Kinder erlebt. Die Großmutter war bei uns, bis sie verstorben ist", erzählt Arzu Deniz.
"Es kräftigt mich, dass ich das durchstehe. Ich sage mir, alles hat seinen Sinn. Das ist mir von Gott zur Aufgabe gegeben worden, die ich zu erfüllen habe. Das ist mein Test. Mit dem Glauben an Gott bewältigt man das", begründet Deniz ihre Entscheidung, die demente Mutter bei sich zu Hause zu pflegen.
Glaube bei Demenzkranken auf einer anderen Ebene
Neriman Deniz hat ihren Kindern die Religion nahegebracht. Aber in ihrem Alltag spielt der Islam keine zentrale Rolle mehr. Denn muslimisch beten, das würde heißen, sich bewegen und vor allem knien zu können. Wegen ihrer Erkrankung, der zunehmenden Desorientierung und des Verlusts des Gleichgewichtsgefühls kann sie sich nicht mehr allein bewegen. Arzu Deniz glaubt nicht, dass ihre Mutter jetzt areligiös geworden ist. Die Bittgebete, die sie in der Kindheit gelernt hat, sagt sie heute noch auf. Der Glaube findet auf einer anderen Ebene statt. "Es gibt Momente, in denen sie Gott erwähnt, dankbar ist für das, was ich ihr gebe. Aber nicht so wie früher", berichtet Deniz.
Die deutsche Gesellschaft altert. Von den 18,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund sind 1,8 Millionen über 65 Jahre alt. Geschätzt sind davon zirka 138.000 von einer dementiellen Entwicklung betroffen - Tendenz steigend. Duygu Duran Orlowski ist Musiktherapeutin. Regelmäßig musiziert sie auch mit Demenzkranken. "Das ist musikalischer Dialog, wenn man Musik macht. Man braucht nicht viel zu sprechen oder zu erklären", sagt Orlowski.
Musik lässt Erinnerungen aufleben
Das ist das Konzept: längst verschollene Erinnerungen wieder zu aktivieren. "Wir singen die Lieder, die sie in der Kindheit gesungen haben, vielleicht sogar bei der eigenen Hochzeit, bei Geburtstagsfeiern, die Schlaflieder, die die Eltern gesungen haben. Wenn wir diese Lieder noch einmal gemeinsam singen, dann kommt die Erinnerung automatisch wieder hoch. Die Musik ist eine starke Kraft, um Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. Die kognitiven Fähigkeiten werden aktiviert und das Erinnern wird leichter", so Orlowski. Vielleicht auch deswegen singt Neriman mit ihren Enkelkindern.