Leonard Bernstein Award für Sean Shibe
Der Leonard Bernstein Award, verliehen durch das Schleswig-Holstein Musik Festival, geht 2022 an den schottischen Gitarristen Sean Shibe.
Der Preis soll Talente fördern, die auf dem Sprung zu einer großen Karriere sind. Das hat bisher gut funktioniert: Die Pianisten Lang Lang, Isata Kanneh-Mason oder Anna Vinnitskaya sowie die Cellistin Alisa Weilerstein gehören zu den Preisträgern. Sie alle sind längst über den Status "Talent" hinausgewachsen. Nun wurde mit Sean Shibe der Preisträger für 2022 bekanntgegeben.
Schneller Wechsel auf E-Gitarre
Das Stück "Electric Counterpoint" von dem amerikanischen Komponisten Steve Reich ist ein Denkmal der Moderne, der Minimal Music. Zu spielen mit bis zu 13 Gitarrenstimmen, die im Playback übereinander geschichtet werden. Die meisten Gitarristen nutzen hier die Urfassung des Jazzers Pat Metheny als Playback - wie soll man es besser machen? Nicht so Sean Shibe. Der Konzertgitarrist, gewohnt an Nylonsaiten, eignet sich mit Mitte 20 Mal eben die E-Gitarre an und liefert eine bahnbrechende Neuinterpretation des Stückes.
Dieser Mut, diese Lust zu experimentieren und neue Wege zu gehen, machen Shibe zum dem herausragenden Gitarristen seiner Generation. 1992 wurde er im schottischen Edinburgh geboren, begann früh an der Royal Scottish Academy zu studieren - als jüngster Musiker jemals. 2012 - er ist nicht mal 20 - wird die BBC auf ihn aufmerksam und nimmt ihn in ihrem "New Generation Artists"-Programm auf - einem Sprungbrett mit Konzerten im ganzen Land und vielen Sendungen im Klassiksender BBC Radio 3.
Als die klassische Gitarre verstummte
Nach ihrem Boom in den 70er- und 80er-Jahren war die klassische Gitarre zurück in einen Dornröschenschlaf gefallen. Andrés Segovia, der Spanier, der sie einst auf die großen Bühnen gebracht hat, starb 1987. Seine Erben - der Brite Julian Bream und der Australier John Williams - sind mittlerweile tot oder im Rentenalter. Ein Solist mit Strahlkraft, Fantasie und dem Willen, über die inneren Zirkel der Konzertgitarrenszene hinauszuwachsen, wollte nicht kommen. Sean Shibe könnte diese Rolle einnehmen. Für einen Gitarristen ist es schwer, mit den Spitzenabsolventen prestigeträchtiger Klavier- oder Violinklassen zu konkurrieren. Das Repertoire des Instruments ist viel kleiner, Mozart, Schumann, Beethoven haben nie für die Gitarre geschrieben. Zudem gelingt es den wenigsten Solisten, auch größere Konzertsäle mit dem Klang des Instruments über Reihe acht hinaus zu füllen.
Die Gabe großer Projektion des Klangs hat Shibe; bei ihm verbunden mit der herausragenden Technik einer jungen Generation und einem sicheren Stilgefühl. Er spielt die Lautensuiten von Johann Sebastian Bach, Renaissancewerke von John Dowland und immer wieder ganz neue Musik.
Parallelen zu Julian Bream
Es sind Neugier und Wucht, die Shibe in seiner Generation besonders machen. Selten spielt er die schon zu oft gehörten Gitarrenhits von der Stange. Er arrangiert, erschließt neu, gibt in Auftrag. Viele erinnert das an die letzte Lichtgestalt der Gitarre aus Großbritannien: Julian Bream, der 2020 gestorben ist.
Nicht zuletzt bringt der Schotte eine Gabe mit, ohne die Musiker in der digitalen Welt nicht mehr auskommen: Er ist ein glänzender, humorvoller und geistreicher Kommunikator. Auf seinem Social-Media-Kanälen lässt er Gitarrenfans und Menschen, die das noch werden sollen, teilhaben an seiner täglichen Arbeit. Und spätestens mit seiner Radiosendung in der BBC hat er das britische Klassikpublikum in seinen Bann gezogen. Mit diesem Leonard-Bernstein-Preisträger kann man sich beim Schleswig-Holstein Musik Festival freuen, auf einen Festivalsommer mit einem kreativen Geist, der den Klassik-Außenseiter Gitarre problemlos ins Zentrum der Aufmerksamkeit bringt.
