Julia Lezhneva: Debüt bei den Göttinger Händel-Festspielen
Christiane Irrgang hat die russische Sopranistin Julia Lezhneva bei der einzigen gemeinsamen Probe mit dem Festivalorchester und dem neuen künstlerischen Leiter George Petrou in Göttingen getroffen.
Frau Lezhneva, Sie hatten nicht viel Zeit, um dieses Programm gemeinsam einzustudieren, nicht wahr?
Julia Lezhneva: Für mich ist das in Ordnung. Ich habe die meisten Stücke schon gesungen. Für das Orchester ist einiges neu, aber sie sind wunderbar! Wir arbeiten zum ersten Mal zusammen und wir lieben einander. Einige Leute kenne ich allerdings schon aus George Petrous Armonia Atenea. Es ist schön, hier bekannte Gesichter wiederzusehen. Und George - jetzt werde ich sehr persönlich - ist für mich wie ein Familienvater. Ich war noch sehr jung, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind - 24 glaube ich - und er hat mir so viel beigebracht, vor allem über den Barockstil.
Aber ich habe noch viel mehr mitgenommen: seine Energie, seine freundliche Herangehensweise an alles, was er tut. Das ist unbezahlbar! Je älter ich werde, desto klarer wird mir, dass all diese professionellen Dinge weniger wichtig sind. Viel wichtiger sind die Beziehungen, die Freundschaft mit den Kollegen und die Gefühle, die man dabei hat. Das ist es, was eine einfache Probe oder ein Konzert jedes Mal zu etwas Besonderem macht. Jedes Konzert, jede Begegnung mit den Kollegen ist ganz besonders, wenn man Liebe und Leidenschaft empfindet, auch auf einer persönlichen Ebene.
Ich glaube, ein Orchester kann entweder eine sehr harte Bank sein oder ein ganz weiches Sofa, in das man sich einfach nur hineinsetzt und entspannt, oder?
Lezhneva: Um ehrlich zu sein, ich habe nie schlechte Erfahrungen mit den Harten gemacht. Vielleicht bin ich ein Glückspilz, aber ich erlebe immer nur eine sehr angenehme Atmosphäre, alles sehr familiär, viel Freiheit, Liebe. Natürlich, wenn die Zeit knapp ist, konzentrieren wir uns alle und geben unser Bestes, aber auch dann kann ich noch die freundliche, liebevolle Energie spüren.
Liegt das daran, dass die Alte Musik-Interpreten eine vergleichsweise kleine Familie sind, in der jeder jeden kennt?
Lezhneva: Ja, auf jeden Fall! Es ist interessant. Warum liebe ich Barockmusik so sehr? Wahrscheinlich, weil ich mich dabei nie in Gefahr fühle. Wenn die Emotionen noch so hochkochen und einen mitreißen, wenn man ganz in seiner Rolle aufgeht und sich die Probleme seiner Figur zu eigen macht - es zerstört einen nicht, es saugt nicht alle Energie aus. Ganz anders im Verismus, zum Beispiel. Auch da wird man in die Geschichte hineingezogen, aber gleichzeitig benutzt und verschlungen. Wenn man Barockmusik singt, fühlt man sich in jeder Hinsicht wohl, geistig, seelisch, körperlich - auch wenn man sie hört. Sie gibt einem mehr, als sie nimmt.
Aus der Sicht des Publikums ist es ziemlich erstaunlich, dass Sie sich wohl dabei fühlen, endlose, wilde, anstrengende Koloraturen zu singen.
Lezhneva: Koloraturen drücken oft extreme Freude aus oder Wut. Etwas, was man mit Worten nicht sagen kann. Es macht Spaß, mit Koloraturen zu zeigen, wie wütend man ist - viel besser, als jemandem böse Wörter ins Gesicht zu brüllen.
Sprechen wir noch ein bisschen über die Musik in diesem Galakonzert. Wie komponieren Sie das Programm? Es ist ja ein Querschnitt durch Ihr Repertoire.
Lezhneva: Ich wollte sagen: Es sind die interessantesten Stücke. Aber dann dachte ich, nein, das kann ich nicht sagen, denn jedes Stück, das ich singen werde, ist so kostbar für mich. Ich bekomme Gänsehaut! Die Auswahl folgt keiner Logik. Am liebsten sind mir die Kontraste - süße, friedvolle, entspannende Musik mit etwas Stürmischem zu unterbrechen und so eine ganz andere Atmosphäre zu schaffen. In diesem Programm beginnen wir mit Händels "Gloria", einem wunderschönen geistlichen Werk, sehr fröhlich. Dann machen wir ein bisschen Vivaldi, ein bisschen Porpora, Graun. Wir haben eine schöne Auswahl, denke ich, das Beste vom Besten.
Das "Gloria" ist ein Frühwerk von Händel, das erst 2001 von einem Hamburger Musikwissenschaftler in der Royal Academy of Music in London entdeckt wurde.
Lezhneva: Es ist so schön und voller Freude. Ich habe es schon oft aufgeführt, deshalb bedeutet es mir viel, das "Gloria" jetzt mit dem Orchester und George zu singen. Ich habe ihn eine ganze Weile nicht gesehen und ein Solorezital haben wir noch nicht zusammen gemacht - oder vielleicht einmal, vor langer Zeit. Ich habe bisher nur bei Opern und konzertanten Opernaufführungen mit George gearbeitet. Ich bin an seine Energie gewöhnt und man kann sich vollkommen auf ihn verlassen und entspannen, wenn er dirigiert. Man fühlt sich wie ein Schmetterling. Ich habe diese Stücke schon mit anderen Dirigenten gesungen, aber dies ist ein ganz spezieller Moment und es wird sehr aufregend werden.
Die Arien von Carl Heinrich Graun haben Sie ja selbst ausgegraben, im Vorfeld einer CD-Produktion mit Concerto Köln und Mikhail Antonenko.
Lezhneva: Zusammen mit meinem Freund, dem Dirigenten der Aufnahme, habe ich einige Stunden in der Bibliothek verbracht und dann viele, viele Stunden zu Hause bei der Durchsicht des digitalen Materials. Das war ein sehr aufregendes und interessantes Projekt und ich würde gern viel mehr davon machen. Aber es kostet viel Zeit und man braucht einen guten Musikwissenschaftler, der einem hilft, die besten Stücke herauszusuchen.
Das Gespräch führte Christiane Irrgang.