Das Orchester und die Ostsee-Pipelines von Nord Stream
Das preisgekrönte Baltic Sea Philharmonic unter Gründungsdirigent Kristjan Järvi wurde 2008 vom Usedomer Musikfestival und der Nord Stream AG initiiert. Die Botschaft des Klangkörpers: Künstlerische Zusammenarbeit, Verständigung und gute Nachbarschaft der Anrainerstaaten der Ostsee, von Skandinavien über Deutschland, die baltischen Staaten und Polen bis nach Russland. Mit dem Krieg in der Ukraine stellt sich die Frage, wie diese Kulturpartnerschaft nun neu zu bewerten ist.
Es ist der 28. Februar 2022, vier Tage nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine: Auf Facebook erscheint eine Erklärung des Baltic Sea Philharmonic, versehen mit dem Hashtag #BalticSpirit und einem Logo in gelb-blauen Farben. "Dies sind schwarze Zeiten für Europa [...] Unsere Gedanken und tiefe Solidarität ist mit den Menschen in der Ukraine, einschließlich auch vielen Freunden und Verwandten unserer Musiker. [...] Wir waren stets 'Brückenbauer' [...] Nun ist es wichtiger denn je, sich gegenseitig zu unterstützen und einander zuzuhören, Solidarität und Einigkeit zu zeigen."
Lettlands Botschaft: "Brückenbau scheinheilig"
Geteilt wurde die Erklärung des Baltic Sea Philharmonic von der lettischen Botschaft in Deutschland, zusammen mit einem Post, in dem es heißt:
"Lassen Sie sich von dieser herzerwärmenden Botschaft nicht in die Irre führen. [...] 2017 wurde Nord Stream 2 AG der Hauptsponsor des Orchesters, das durch Kulturdiplomatie und hervorragende musikalische Leistungen die Interessen des Kremls in Europa fördern sollte. Der Versuch, diese Tätigkeit als Brückenbauen zu verkaufen, ist scheinheilig."
Ein vernichtendes Urteil von offizieller Stelle zum Krisenmanagement des Orchesters, in dem auch Musiker*innen aus Lettland spielen. Und das, obwohl das Baltic Sea Philharmonic zuvor über das Usedomer Musikfestival verkündet hatte, dass es die Zusammenarbeit mit Nord Stream 2 beendet habe. NDR 1 Radio MV und NDR Kultur hatten berichtet.
Ende des Sponsorings mit Kriegsbeginn
Die Aufkündigung der Zusammenarbeit mit der Betreibergesellschaft der zwischenzeitlich von der Bundesregierung gestoppten zweiten Ostseepipeline kam schleppend. Am 25. Februar 2022, einen Tag nach dem Angriff auf die Ukraine, und einen Tag bevor bekannt wird, dass die Nord Stream 2 AG wohl insolvent ist und ihre Mitarbeiter bereits entlassen sind, verschwindet das Logo der Nord Stream 2 AG als Sponsor plötzlich von den Internet-Seiten des Usedomer Musikfestivals und des Baltic Sea Philharmonic. Auch auf den Seiten der Nord Stream 2 AG ist die Übersicht für Kultursponsoring-Partnerschaften nicht mehr zu erreichen. Dort war zuvor neben der Unterstützung der Europaparks das Baltic Sea Philharmonic aufgeführt gewesen.
Kritische Nachfragen
Der Sprecher des Usedomer Musikfestival bestätigt erst auf Nachfrage des NDR die Beendigung der seit 2017 währenden Sponsoring-Partnerschaft zwischen Orchester und Ostseepipeline-Gesellschaft. Er teilt weiter schriftlich mit, das Logo der Nord Stream 2 AG als Hauptförderer des Klangkörpers sei auf der Homepage des Usedomer Musikfestivals lediglich im Zusammenhang mit der Gründungsidee des Baltic Sea Philharmonic durch Festivalintendant Thomas Hummel und der Nord Stream AG abgebildet worden. Es wird betont: "Das Usedomer Musikfestival steht in keiner vertraglichen und/oder werblichen Verbindung zur Nord Stream 2 AG. Außerdem hat das Baltic Sea Philharmonic eine eigene Trägerschaft mit Sitz Berlin."
Nord Stream 2 AG nicht nur Sponsor
Tatsächlich wird das Orchester von der "Baltic Sea Music Education Foundation" getragen, einem gemeinnützigen gegründeten Verein in Berlin. Gegründet wurde der im November 2012. Laut einer NDR Abfrage vom 28. Februar 2022 ist der Geschäftsführer des Vereins Thomas Hummel, zugleich Intendant des Usedomer Musikfestivals. Im Vereinsvorstand ist auch Dirk von Ameln, langjährig Berater des CEO der Nord Stream 2 AG, sowie als Vereinskassenwart Rechtsanwalt Frank Häuser, vielfältig engagiert in Aktivitäten von Nordstream.
Erstaunliche Personalien

Im Programmheft des Baltic Sea Philharmonic von 2016 ist außerdem als Vorsitzender des Kuratoriums der Foundation Matthias Warnig aufgeführt, Geschäftsführer der Nord Stream 2 AG. Er ist ein enger Freund von Russlands Präsident Wladimir Putin, mittlerweile persönlich mit Sanktionen der US-Regierung belegt.
Kuratorium wird aufgelöst
Thomas Hummel betont im Interview mit dem NDR, in der Baltic Sea Music Education Foundation hätten sich lediglich Privatpersonen völlig unabhängig von ihrer beruflichen Tätigkeit "auf vollkommen freiwilliger Basis" und aus "Engagement für die gute Sache" eingesetzt. Insofern habe sich an der Zusammensetzung des Vorstandes des Foundation nichts geändert. Es gebe jedoch eine Vorstandsentscheidung, das Kuratorium aufzulösen. Dazu müsse man "fairerweise auch sagen, dass das Kuratorium die letzten zwei, drei Jahre gar nicht mehr getagt hat, das war eher auf dem Papier, das hat gar keinen Einfluss gehabt auf die Arbeit des Orchesters".
Hummel: "Immer für Frieden und Versöhnung eingesetzt"
Die erste Nordstream-Pipeline sei ja eines der größten wirtschaftlichen Investitionsprogramme Europas mit einem Volumen von circa zehn Milliarden Euro gewesen, unterstützt anfangs auch von der Politik, sagt Hummel. "Dass man sich hier kulturell engagieren möchte, das - denke ich mal - war ja auch eine gute Sache. Zumal unser Anliegen von Anfang an nicht gelenkt wurde, sondern wir wollten Verständigung im Ostseeraum." Der Sponsoring-Vertrag mit der Nordstream 2 AG wäre zum 31. Dezember 2022 ausgelaufen. Thomas Hummel wünscht sich von Seiten der Politik, dass das Orchester nun unterstützt und nicht allein gelassen werde. "Mit dem Einmarsch der Ukraine hat sich alles geändert", sagt Hummel. Er ist sich aber sicher: "Wir wurden nie irgendwo eingespannt, irgendetwas zu tun, was nicht in unserem Interesse war, denn wir haben uns immer für Frieden und Versöhnung eingesetzt."
Wie alles begann
2008 begann die Geschichte des Baltic Sea, damals noch als multinationales Jugendorchester Baltic Youth Philharmonic (BYP). Im ersten Jahr gab das Nachwuchsorchester zwei Gründungskonzerte: eines in Riga, ein weiteres im Rahmen des Usedomer Musikfestivals. Bereits zu dem Gründungskonzert in Peenemünde kam ein prominenter Unterstützer: Altkanzler Gerhard Schröder. Er vertrat den Mitinitiator des Orchesters und Sponsors: die Nord Stream AG. Seinerzeit war die Genehmigung für Nord Stream 1 noch nicht abgeschlossen.
Transparency Deutschland: Win-Win-Situation
Gerhard Bley von Transparency International in Mecklenburg-Vorpommern sagt, prinzipiell habe man in den letzten 15 Jahren beobachten können, wie insbesondere im Nordosten Lobbyismus zu Gunsten russischer Interessen intensiviert worden sei. Dazu gehörten Umweltschutzinitiativen, Wirtschaftstreffen aber auch Sponsoring im Sport, wie beispielsweise beim SSC Schwerin, aber auch in der Jugendarbeit oder im kulturellen Bereich. Nun stelle sich die Frage, "worin liegt die 'win-win-Situation', sodass es einen Imagegewinn gibt? Sie kriegen viele Kontakte, sie können gut Netzwerken - dabei geriet vielleicht aber auch manches aus dem Blick, wie wir ja jetzt sehen."
Nord Stream schmückt sich mit Orchester
Tatsächlich umrahmen Mitglieder des Baltic Sea musikalisch die Einweihungsfeierlichkeiten für die erste Ostseepipeline 2011. Ein Bild, das rückblickend nachdenklich stimmt. Passt die Botschaft des Orchesters, das 2015 ausdrücklich auch für die Förderung der kulturellen Verständigung mit dem Europäischen Kulturpreis geehrt wurde, nicht allzu gut zu den geostrategischen Interessen und Beteuerungen der russischen Regierung, die Pipeline-Projekte seien verbindend? In einem Werbevideo auf Youtube heißt es, das Sponsoring des Jungendorchesters passe zu Nord Stream, "weil wir Europa mit Europa verbinden. Wir verbinden die Jugend der Ostseeanrainerstaaten - und es funktioniert!".
Dirigent Järvi: "In der Musik gibt es keine Grenzen"
Der aus Estland stammende Kristjan Järvi, Gründungsdirigent und künstlerische Leiter des Baltic Sea Phiharmonic sagt im Interview mit dem NDR, die Musiker*innen des Orchesters seien seit Kriegsbeginn fassungslos. Niemand habe die jüngsten Ereignisse vorhersehen können, besonders Politik und Wirtschaft hätten sich getäuscht. Und ganz persönlich sagt er: "Ich fühle mich auch betrogen. Es fühlt sich fast so an, als hätte Putin mir ein Messer in den Rücken gerammt." Die künstlerische Zielsetzung und Botschaft des Orchesters möchte er jedoch nicht nachträglich diskreditiert sehen: "Wir hatten und haben eine Mission: ein großes Forum zu bilden, um Menschen zusammenzubringen - und um damit zu verhindern, dass genau so etwas passiert, wie jetzt. In der Musik gibt es keine Grenzen!". Kunst sei nicht käuflich. In keiner Weise sei das Orchester je von seinem Sponsor instrumentalisiert worden, "für irgendetwas anderes als das, wofür wir stehen: Musik und gemeinsames Erleben."
Fragwürdige Kulturdiplomatie
Jörg Heiser, Professor an der Universität der Künste Berlin, hingegen sagt, viele seien blauäugig gewesen. Er spricht von "Artwashing" als de facto Wirtschaftsdiplomatie mit Mitteln der Kultur: "Dabei bereiten die Kultur, die Kunst und die Musik im Grunde genommen eine Bühne, manchmal sogar im Wortsinne, wo Akteure aus Politik und Wirtschaft sich die Hände schütteln." Es brauche ein Umdenken, in dem es nicht um "Schuld und Sühne" ginge, sondern um eine selbstkritische Auseinandersetzung.
Kunsttheoretiker Heiser: Aufarbeitung notwendig
Doch Kunsttheoretiker Heiser befürchtet, dass eine Aufarbeitung fehlgeschlagener Kulturdiplomatie ausbleiben könnte: "Jetzt sind plötzlich alle erbittert gegen den Krieg, dann gehen sie zur Tagesordnung über. Ohne mit sich selbst auch mal ins Gericht zu gehen und zu fragen: Was haben wir eigentlich falsch gemacht? Das geht an politische Parteien, die jahrelang Putin verharmlost haben - das geht aber auch an Leute aus der Kulturszene."
"Zum Glück noch andere Sponsoren"
Dirigent Kristjan Järvi glaubt nicht, dass Kultur manipuliert oder benutzt werden kann. Das entziehe sich seinem Denken. "Der wirkliche Nutzen des ganzen Nord Stream Projektes", sagt er, "ist keine Pipeline, sondern unser Orchester: das Baltic Sea Philhamonic. Das ist wirklich das einzig Wahre und Gute, was passiert ist - denn alles andere liegt in Trümmern. Die Rettung könnte darin liegen, dass wir uns noch mehr auf unsere eigentliche Mission berufen - und uns dafür mit noch mehr Energie einsetzen. Und zum Glück haben wir auch noch andere Sponsoren, sodass wir uns weiter dafür einsetzen können, wofür wir stehen."
In einer früheren Version dieses Artikel haben wir geschrieben, dass die Erklärung des Baltic Sea Philharmonic auf den Kanälen des Usedomer Musikfestivals und des Baltic Sea Philharmonic veröffentlicht worden sei. Dies ist nicht richtig. Es handelte sich um einen Post der lettischen Botschaft. Des weiteren wurde in einer früheren Version Dirk von Ameln als Genehmigungsdirektor der Nordstream 2 AG bezeichnet, dies war er für die Nordstream AG. Der Rechtsanwalt Frank Häuser ist nicht als Manager bei der Nordstream 2 AG angestellt. Die entsprechenden Stellen wurden korrigiert.
