Corona: Protest gegen Schulmusik-Shutdown in Niedersachsen
In den Sommerferien hatten Schulen Hygienekonzepte erarbeitet, um ihre Bläserklassen und Orchester wieder zu reaktivieren. Umsonst: Flöte, Trompete und Co. sind nun gänzlich aus Schulräumen verbannt.
"Das Spielen von Blasinstrumenten darf in Räumlichkeiten nicht stattfinden." Dieser Satz im Rahmen-Hygieneplan 3.2 vom niedersächsischen Kultusministerium stellt den Musikunterricht an den Schulen des Landes auf den Kopf. Mit viel Sorgfalt hatten die Lehrkräfte Hygienekonzepte erarbeitet, um nach monatelanger Zwangspause durch den Corona-Shutdown wieder gemeinsam in Flötengruppen und Bläserklassen, in Big Bands und Schulorchestern musizieren zu können. Mensen und Aulen wurden freigeräumt, um große Abstände zwischen den einzelnen Instrumenten einhalten zu können. Jetzt müssen Flöte, Tuba und Trompete zurück in den Schrank und die Schulen erneut umplanen.
Wichtige Unterrichtsinhalte nicht mehr zulässig - außer im Freien
Cordula Lustig, Lehrerin der 6b und Fachbereichsleitung Musik an der IGS List in Hannover, musste die kommenden Unterrichtseinheiten komplett neu strukturieren. In ihrer Bläserklasse steht erst mal Klatschen statt Spielen auf dem Stundenplan.
Für sie wie für ihre Kollegen ist die neue Verordnung ein Schlag ins Gesicht. Der Musikzweig ist ein wichtiger Teil des IGS-Angebots, die Schule zeichnet sich unter anderem durch das Bläserprofil aus. "Wir haben 180 Bläserklassenkinder, die jetzt nicht mehr ihrem Profilwunsch nachgehen können", sagt sie. "Dass sie zusammen Musik machen, gemeinsam musikalische, praktische Erfahrungen machen - das fällt jetzt tatsächlich weg."
Verbote betreffen auch anderen Unterricht an den Schulen
Singen und dialogische Sprechübungen sind in Schulgebäuden ebenfalls verboten - Chöre, Theaterklassen, aber auch Sprachenlehrer müssen sich umstellen. Cordula Lustig unterrichtet als Zweitfach Französisch. Singen - beim Einstieg in eine neue Sprache hilfreich - fällt einstweilen weg, bedauert sie und sagt: "Wir gehen für jede Dialogübung, die ja wirklich das tägliche Brot ist Fremdsprachenunterricht, raus auf den Hof."
Bläser-Unterricht draußen keine Alternative
Mit den Blasinstrumenten nach draußen auf dem Schulhof - das ist allerdings nicht realisierbar: Es würde Anwohner und vor allem auch andere Klassen stören. Zumal derzeit Klausurenphase ist und alle Klassen bei geöffneten Fenstern sitzen.
Draußen musizieren kommt aber auch witterungsbedingt nicht infrage: Kaum eine Schule hat einen Unterstand - und ob alle Musikinstrumente winterliche Temperaturen so gut aushalten, macht den Schülern der IGS List berechtigt Sorgen: "Wir sollen uns ja immer warm spielen, dass die Instrumente warm werden und die Töne dann besser klingen." Insbesondere Klarinetten sind tatsächlich kältempfindlich.
Online-Musikunterricht nicht leicht zu organisieren
Der zusätzliche Instrumentalunterricht im Bläserprofil, der sonst in Kleingruppen stattfindet, wird an den meisten Schulen nun wieder online erteilt. Das aber ist gar nicht so leicht zu koordinieren. An der IGS List sind die Instrumentalunterricht-Einheiten eigentlich in den regulären Stundenplan eingewoben - den Onlineunterricht können die Kinder allerdings nur von zu Hause aus wahrnehmen. Doch da können sie nicht während des Schultages kurz für ein Stündchen hin. Die Instrumentallehrer hingegen haben nachmittags schon andere Kurse. Somit müssen die Online-Bläserstunden teilweise samstags stattfinden.
Motivation der Kinder sinkt
"Die Frustration ist schon sehr groß. Das ist wie so ein Mehltau - weil einfach auch nicht abzusehen ist, wie lange die Phase dauert", stellt Cordula Lustig fest. Den Kindern ihrer 6 b fehlt das Gruppengefühl vom Tutti-Spiel, also vom gemeinsamen Klassenorchester. Lustig macht sich Sorgen, ob es gelingen wird, die Kinder über so eine lange Zeit ohne richtigen Unterricht zu motivieren, und befürchtet Lerndefizite: "Wir haben jetzt eine fünfte Klasse, Bläserklasse, die haben zwei Instrumentalunterrichtsstunden in Präsenz gehabt. Dann waren Herbstferien - und jetzt sind sie im Onlineunterricht", erzählt sie. "Wenn es gut läuft, können die Eltern das zu Hause ein bisschen supporten. Aber da wissen wir noch nicht genau, was da herauskommt." Gerade am Anfang, wenn Grundlegendes wie Atemstütze und Ansatz noch nicht wirklich eingeübt sind, lässt sich per Distanzunterricht schwer helfen.
Breiter Protest von Verbänden

In anderen Bundesländern gibt es keinen derart pauschalen Blasinstrumente-Bann, und auch in den Musikschulen sind Bläser weiter zulässig. Gegen die Pauschalverbote im Rahmen-Hygieneplan regt sich Protest. Zumal es keine ersichtlichen Gründe dafür gibt, sagt Ralf Beiderwieden vom Verband Deutscher Schulmusiker Niedersachsen (VDS). Selbstverständlich habe Infektionsschutz oberste Priorität. Der VDS fordere aber, dass die Regelung für die Schulen aufgehoben wird, die sichere Unterrichtsbedingungen vorweisen können. Bisherige Studien hätten gezeigt, dass kaum ein Risiko besteht: "Weil man bei einem normalen Blasinstrument eine Tröpfchenreichweite von 50 Zentimetern hat, und höchstens bei den Querflöten kann das auch mal ein Meter sein. Das heißt, mit einem Meter fünfzig ist man auch ohne Plexiglasverschlag auf der sicheren Seite." In hohen, gelüfteten Räumen stauen sich aus Sicht der Wissenschaft auch keine Aerosole.
Niedersachsen ist deutlich strenger als Empfehlungen des RKI
Tatsächlich geht die niedersächsische Vorschrift weit über die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) hinaus, das lediglich zur "Vermeidung von Schulaktivitäten, welche die Bildung und Anreicherung von Aerosolen begünstigen (zum Beispiel Chorsingen und Bläserklassen in ungeeigneten Innenbereichen)" rät und schulische Einschränkungen nach örtlichen Inzidenzwerten abstuft.
Kultusministerium will Verbot überprüfen

Es gibt landesweit große Hoffnungen, dass das Ministerium an dieser Stelle noch einmal nachjustiert. Auch der Bundesverband Musikunterricht (BMU-Niedersachsen) fordert "eine zeitnahe Korrektur" des niedersächsischen Rahmen-Hygieneplans, "um Musizieren in Ensembles in geeigneten Räumen der Schulen (...) zu ermöglichen".
Minister Tonne ließ auf Anfrage über sein Sprecherteam wissen, es gelte weiterhin, den Präsenzunterricht zu schützen - so schwer manche Einschränkungen auch fallen. Doch heißt es weiter:
Das MK prüft zurzeit gemeinsam mit dem Niedersächsischen Landesgesundheitsamt, unter welchen Bedingungen die Nutzung von Blasinstrumenten in geschlossenen Räumen (wieder) zugelassen werden kann. Jasmin Schönberger, Stv. Pressesprecherin / Nds. Kultusministerium
Kreative Ansätze sind jetzt gefragt
Ob die Änderung rechtzeitig kommt? "Wir machen uns große Sorgen um das, was die gegenwärtigen Einschränkungen für das Leben und die Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder bedeuten", sagt Ralf Beiderwieden. "Natürlich, manche Kinder finden Fußball toll, manche finden es toll, irgendwelche Reagenzien im Labor zu kochen. Aber für etliche ist eben die Musik so richtig wichtig: die Fahrten, die Konzerte, die man zusammen macht - dieses ganze Erlebnis des Applauses und des Miteinander-Musizierens. Das kann man den Kindern nicht einfach wegnehmen."
Um wenigstens auf ein kleines Ziel hinzuarbeiten, nimmt Cordula Lustig die widrigen Umstände auf dem Schulhof in Kauf und begeistert ihre Bläser-Kinder mit einer Idee: "Wir haben uns überlegt, dass wir im Dezember, wenn es denn möglich ist, 'Outdoor-Weihnachtsblasen' anbieten. Für die Seele und einfach, damit sie das machen dürfen, was sie am liebsten machen, nämlich: gemeinsam Musik."
