Ein aufgeschlagenes Buch liegt vor einem Stapel Bücher © picture alliance / Zoonar Foto: Alexey Popov
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AUDIO: Gewalt, Macht, Krieg - Die Spuren des Krieges in der Literatur (11 Min)

Gewalt, Macht, Krieg - Die Spuren des Krieges in der Literatur

Stand: 22.04.2023 06:00 Uhr

Was kann Literatur uns geben, wenn es an die Substanz geht? Kann sie trösten, oder wenigstens helfen, die Welt besser zu verstehen? Die Schriftstellerin Julia Franck hält Literatur für überlebenswichtig.

von Julia Franck

Wer kann schon ohne Literatur leben, ohne das Erzählen und Hören unserer Geschichten, die seit Anbeginn um das kreisen, was wir voneinander wissen und verstehen wollen. Wie oft höre ich in den vergangenen Jahren den Satz "zum Lesen fehlt mir die Zeit". Niemand von uns verfügt über mehr oder weniger Zeit als ein anderer. Eine jede hat nur ihre Lebenszeit zum Lieben und Wüten, zum Träumen und Arbeiten, zum Kämpfen, Sorgen und Trödeln. Ob wir zur Dämmerstunde Löcher in die Luft starren, Netflix, Youtube, Twitter, Nachrichten oder ein Buch öffnen, gehört zu den wunderbaren Freiheiten unserer demokratischen Gesellschaft.

 

Lesen, im Gegensatz zu anderen Medien, sperrt uns den Zugang zum Nachdenken auf, gewährt Einblick in fernere Zeiten und Regionen, ermöglicht uns die Begegnung mit Menschen, ihren Eigenschaften und Kulturen, die uns eben noch fremd waren. Selbst wenn ihre Autorinnen längst gestorben sind, teilen wir im Lesen ihre Sprache und ihr Denken, ihr Wissen und ihre Erfahrung mit der Gewalt und den Hoffnungen, die alle Kriege hervorbringen, die Ohnmacht und Zweifel, über uns selbst und das Menschliche schlechthin, die jeder Krieg im Menschen erwirkt. Literatur ist die Spur des Anderen, die unmittelbar in unsere Gegenwart zielt.

Literatur als Instrument zur Überwindung von Hass und Wut

Erst im Lesen von Agota Kristofs Trilogie vom "Großen Heft" erkannte ich das Universelle der Erfahrung von Krieg und Migration, das Kollektive, mindestens Zwillingshafte in der Erfahrung des Einzelnen, das Universelle des radikalen Anspruchs an Wahrheit inmitten eines Krieges, der immer schon ein Gestrüpp aus Lügen und nicht erst seit Troja ein strategisches Spiel der Täuschung ist. Kaum eine Autorin des 20. Jahrhunderts hat das Wesen des Krieges so knapp und pointiert, so nüchtern und poetisch erzählt wie Kristof mit ihren Zwillingen, die am Ende vermutlich keine waren. Weder Unschuld noch Unversehrtheit kann es im Krieg geben. Zugleich schärft die Lektüre von Kristof unseren Blick auf die Gegenwart: Die gelingende Flucht Einzelner befriedet weder einen religiösen oder ideologischen Krieg, noch den willkürlichen Angriff eines Imperators oder die humanitären Verbrechen und Militärschläge eines Mächtlings. Literatur heilt und rettet keineswegs, sie tröstet und beruhigt nicht, sie ist keine Waffe und wollte nie eine sein. Und doch ist Literatur das einzige Gegenmittel, ein Instrument zur Verständigung, zur Überwindung von Hass und Wut.

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Besonders im zerstreuenden Alltag zwischen Beruf, Nachrichten und Privatleben ist das Lesen eine Schule der Konzentration und Zuwendung, der Tiefe und Intensität. Gerade in Zeiten großer Veränderungen, gesellschaftlicher und auch individueller Umbrüche, in denen wir Krisen, Katastrophen und Kriege entlang einer Flut von Bildern erleben, ermöglicht das Lesen von Literatur nicht nur eine aufregende und unterhaltsame Auseinandersetzung mit dem Denken der Anderen und ihrer Geschichte, wir dürfen uns die Welt dieser Anderen vorstellen und mit ihrer Sprache aus ihrer Gegenwart in unserem Hier aufwachen. Eine solche Überwindung sonst ferner, also Begegnung entlegener Zeiten, Orte und Menschen ist einzig in der Literatur möglich, ein irdisches Wunder.

Bücher helfen gegen die Ohnmacht

Mord und Gewalt brauchen keinen Krieg, und doch schürfen seine Bilder, die uns im Minutentakt von Drohnenkameras und Videoaufnahmen über unsere häuslichen und mobilen Bildschirme erreichen, im kollektiven Gedächtnis unserer Kriegserfahrung. Sie rufen Angst und Ohnmacht wach. Unentwegt werden wir Augenzeugen der Kriegsbilder, Zuschauer der echten und rohen Gewalt zwischen anderen. Die Bilder fallen in unser Inneres. Während die Bilderflut manch einen immer unempfindlicher, robust und schroff werden lässt, stören dieselben Kriegsbilder in anderen von uns empfindlich die Grundfesten unseres zivilisierten Selbstbildes als Westeuropäer.

Die notwendige Entwicklung der Erinnerungskultur und Aufarbeitung der deutschen Kriegsschuld und Verbrechen musste wachsen. Wo Verständigung und Friedensverhandlungen scheitern, der Stein des Stärkeren den Pazifisten erschlägt, wirkt neben medizinischer Versorgung und Suppenküche, Spenden und humanitärer Hilfe kaum etwas gegen die bleierne Empfindung schier grenzenloser Ohnmacht. Das Lesen von Literatur bietet den Nachrichtenbildern vom Krieg die Stirn.

Die unscheinbaren Abzweige zur Radikalisierung

Was ich von Krieg, Gewalt und dem Menschen darin weiß, weiß ich aus der Lektüre von Kristofs Trilogie vom "Großen Heft", weiß ich von Celans Dichtung, von Duras‘ "Der Schmerz". Auf den Lesereisen der vergangenen Wochen begleitete mich neben den Gedichten Serhij Zhadans auch der atemberaubende Roman "Nachts ist unser Blut schwarz" von David Diop. Während er in gewaltiger und poetischer Sprache vom Kampf und Sterben zweier Soldaten erzählt, legt er die menschenverachtende Grausamkeit von Kriegen bloß. Wo siedeln Rassismus, Nationalismus, Imperialismus? Ich lese und begreife, wie in der Schlacht aus Wut Angst und Rache entstehen, ja, rauschhafte Gewalt ausgelöst und zugleich von ihnen hervorgebracht wird.

Die brennende Frage nach dem, was uns Menschen zu so genannten Bestien werden lässt, provoziert Diops Roman aber vor allem mit Blick auf die erzählte Freundschaftsliebe und treue Verbundenheit. Hier ähnelt seine motivische Konstellation den Drei Kameradinnen von Shida Bazyar. Bazyar gelingt es, die Umwandlung, Entladung von Verletzungen und Ausgrenzungserfahrungen im Alltäglichen, ernst und bitterböse, zugleich aber mit beißendem Witz zu erzählen, ohne dabei in zynische Posen zu geraten. Auch in Bazyars Kameradinnen wirkt Gewalt erst subtil und umso schmerzlicher, als sie trotz und vielleicht sogar angesichts einer Freundschaft auflodert. Wie sie die unscheinbaren Abzweige zur Radikalisierung aufzeigt, ist so weise wie genial. Krieg und Unrecht stellen immer auch die Frage nach dem Recht auf Gewalt, nach der Rechtmäßigkeit des Tötens.

Literatur öffnet uns den Klang einer Landschaft

Fahnde ich in der ukrainischen, russischen, belarussischen Literatur nach der langen Spur von Gewalt, Mut zur Freiheit, den Anzeichen der Unabhängigkeit und den vielen Widersprüchen mit ihren ebenso radikalen emanzipierten wie auch traditionellen autoritären Machtstrukturen, so lassen sich neben den berühmten Andruchowytsch und Zhadan vereinzelt die noch längst nicht weltbekannten literarischen Stimmen junger Schriftstellerinnen finden, die in den vergangenen Jahren mutig Position während des Euromaidan und des jetzigen Krieges beziehen. Literatur öffnet uns den Klang einer Landschaft, den Gaumen für den Geschmack einer Sprache.

"Der Hauch der Nacht ist dein Laken, die Finsternis legt sich zu dir", beginnt Celans Gedicht "Schlaf und Speise". Und er ist es, dessen Gedichte mich seit Wochen wieder begleiten.

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Wir lesen und begreifen

Als Paul Antschel 1920 in Czernowitz geboren, der Bukowina, die heute zur Ukraine gehört, wuchs Celan mit der deutschen Muttersprache, erst an einer deutschen, dann einer hebräischen Grundschule, schließlich am rumänischen, dann dem ukrainischen Staatsgymnasium zwischen der rumänischen Nationalität, einem kurzen Studienbeginn der Medizin in Frankreich, einem Wechsel zur Romanistik zurück in Rumänien und schließlich dem Arbeitslager auf, das den 22-jährigen Juden seinerzeit vermutlich vor der Deportation schützen sollte und ihn doch zum Gefangenen und Opfer des deutschen Nationalsozialismus machte. Dass er seine Eltern nicht vor der Deportation und dem Tod bewahren konnte, nur das eigene Leben retten, hinterließ wohl eine lebenslange Ohnmacht, den Schamschmerz des Überlebenden,

"Er trägt die Flocke Schnee auf lebensroter Feder; das Körnchen Eis im Schnabel kommt er durch den Sommer", lesen wir im Gedicht "Ich bin allein", "und stell die Aschenblume ins Glas voll reifer Schwärze", und verstehen mit Celans Dichtung, lesen die vor dem Krieg fliehenden Frauen unserer Zeit mit. Wir lesen und begreifen, welch Angst und Schmerz sie durchleiden, selbst wenn manche ihrer Kinder nun vorübergehend unter den blühenden weißen Kastanien Berlins Fußball spielen mögen, und sie am Wiesenrand stumm zusehen: im täuschenden Frühling, als seien sie in Sicherheit. Ihre Männer und Väter und Söhne, ihre Brüder und Freunde müssen zu Waffen greifen oder zuvor schon durch die Waffen anderer sterben. Wie könnten wir ohne Literatur überleben?

Wiederholung der Sendung vom 23. April 2022

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 22.04.2023 | 13:05 Uhr

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Romane

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